Die Nummer 314 503 kennzeichnet ein legendäres Instrument. 45 Jahre lang spielte es der Jahrhundert-Pianist Vladimir Horowitz. Dieser Tage steht sein Flügel im Hamburger Steinway-Haus. Tom R. Schulz wagte sich an diesen Mythos.

Man müsste Klavierspielen können. Wenigstens jetzt, an diesem trüben Dezembermorgen in Hamburg-Bahrenfeld. Andächtig nimmt der Reporter im "Horowitz-Saal" des Steinway-Hauses am Rondenbarg 15 auf der Klavierbank Platz und legt, ganz vorsichtig, die ungeübten Hände auf die Tastatur dieses Mythos in Mattschwarz. Die Finger berühren eine Legende aus Holz und Metall, die doch, wie die Panzerknacker, nur auf eine Nummer hört: 314 503. Es ist der Flügel von Vladimir Horowitz, einem der größten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Es ist der Flügel, den die Firma Steinway & Sons dem russischstämmigen Pianisten und seiner Frau Wanda, Tochter von Arturo Toscanini und wahrlich eine mit Haaren auf den Zähnen, 1943 zur Hochzeit schenkte. Es ist der Flügel, auf dem Horowitz jahrzehntelang in seiner Wohnung in Manhattan spielte und den er in den letzten vier Jahren seines Lebens bei Konzerten ausschließlich benutzte. Es ist der Flügel, der sein Apartment in der 94. Straße nur durchs Fenster verlassen konnte und der sachte!, sachte!, jedes Mal umständlich abgeseilt werden musste. Es ist - der Flügel der Flügel.

Und jetzt steht er hier in diesem Zweckbau im Industriegebiet von Bahrenfeld auf einer kleinen Bühne. Ein Hauch von Lourdes liegt in der Luft. An den Wänden Nachbildungen von Ölgemälden, deren Originale in der Steinway Gallery in New York hängen: Firmengründer Heinrich Engelhard Steinweg baut in seiner Küche in Seesen im Harz anno 1836 seinen ersten Flügel. Anton Rubinstein spielt vor der Familie des Zaren. Ignacy Jan Paderewski steht vor seinem Steinway, eine Rolle mit Noten in der Hand. Und natürlich überlebensgroß und allgegenwärtig: Vladimir Horowitz.

Sein ihm "treu ergebener Freund" Nummer 314 503 wirkt schlank, fast zart. Dabei handelt es sich um das Modell D-274, den größten Konzertflügel, den Steinway baut. Vielleicht liegt's am unglänzenden Auftritt des Instruments: Der matte Lack ist typisch für die Flügel der amerikanischen Fabrikation. Dafür schimmert die bronzefarbene Gussplatte aus dem geschwungenen Zauberkasten so schön wie das Abendlicht in den Bergen. Die Seriennummer funkelt wie frisch lackiert. Die Saiten im Diskant glitzern wie Fäden aus Sternseide, die im Bassbereich mit ihren vielen feinen Rippen wie vom Goldschmied gefertigte Taue. Das Auge des Reporters schwelgt in diesem Wunderwerk der Handwerkskunst. Derweil warten die schwarzen und weißen Tasten geduldig auf den Zugriff seiner vor Ehrfurcht ganz schüchternen Hände.

Als er sich endlich ein Herz fasst, braucht er kaum Druck, sie anzuschlagen. Fast wie durch vor Stunden aus dem Kühlschrank genommene Butter drücken die Finger die Tasten herunter. Der Anschlag ist ebenmäßig, die Tasten sitzen makellos fein eine neben der anderen, nichts wackelt. Näselnd sei der Klang dieses Instruments, so beschrieb ihn Horowitz einst selbst. Unter den von Herzklopfen begleiteten Anspielversuchen des Reporters klingt der Flügel abgetönt und diskret. Die Bässe kommen erfreulich kernig, nichts klirrt in den Höhen. Keine Spur vom glitzernden Auftrumpf-Sound der modernen Instrumente, die in den Verkaufsräumen nebenan auf Kundschaft warten.

Das besonders leichte, fast willfährige Nachgeben der Tasten nennt Franz Mohr, langjähriger Steinway-Cheftechniker in New York, den "Horowitz-Touch". 27 Jahre lang, von 1962 bis zum Tod des genialen Pianisten am 5. November 1989, sorgte Mohr persönlich für die Stimmung und Justierung der mechanischen Feinheiten, genau so, wie sie dem Maestro genehm waren. Mohr stammt aus Deutschland und hat 1992 ein Buch über seine Zeit mit Horowitz und anderen Tasten-Stars geschrieben ("Große Pianisten, wie sie keiner kennt"). Keinem von ihnen kam er so nahe wie Horowitz, wenigen nur kam wohl auch Horowitz, der Menschenscheue, so nahe wie Franz Mohr.

Horowitz' Spieltechnik verlangte nach geringem Widerstand der Tasten - andere Pianisten, etwa Arthur Rubinstein, hätten bei dieser Einstellung die Krise gekriegt. Selbst Murray Perahia, den Horowitz liebte und der zu seinen Lebzeiten als einziger Pianist außer ihm auf seinem Flügel spielen durfte, kam mit der Softie-Regulierung à la Vladimir nicht zurecht. "Perahia spielte in der Avery Fisher Hall in New York darauf", erzählt Mohr, heute 82 Jahre alt, in seinem flüssigen Auswanderer-Deutsch am Telefon. "Schon nach dem ersten Stück, einer Haydn-Sonate, kam er jammernd zu mir hinter die Bühne: Franz, ich kann dieses Instrument nicht handhaben!"

Die knappe halbe Tonne Lebendgewicht von 314 503 ruht auf drei winzigen Rollfüßchen. Neuere Modelle haben wuchtige, glänzende Rollen mit Bremsvorrichtung. Auf der rechten Seite des Korpus, dem Publikum zugewandt, nennt sich der Hersteller mit einem kleinen Schriftzug beim Namen: "Steinway & Sons". Wer mit dem Finger darüber streicht, spürt jeden Buchstaben als Messingintarsie unter den Fingerkuppen. Heute fällt der Schriftzug gefühlt dreimal so pompös aus und ist beim Hamburger Modell mit dem Polyesterlack zu einer einheitlich hochglänzenden Oberfläche verschliffen.

Kein Zweifel: Dieses alte Instrument ist eine Reliquie - und offenbart auf seiner dem Publikum abgewandten Seite zugleich Spuren eines Lebens, das eher an Rock 'n' Roll erinnert als an die letztgültige Deutung von Scarlatti, Liszt, Schumann und Skrjabin. Denn auf der langen Schmalseite weist der Korpus in zwei Reihen jede Menge profaner Schraublöcher auf. "Zum leichteren Transport hatte man bei Horowitz' Flügel, den er ja überall mit hinnahm, Dauerleisten draufmontiert", erklärt Kurt Heise, Klavierbauer bei Steinway. "Die erfüllten die Funktion des dick gepolsterten Schlittens, den man normalerweise zum Flügeltransport verwendet." Jetzt sind die Dauerleisten ab, obwohl 314 503 kaum weniger unterwegs ist als zu Lebzeiten seines Besitzers.

Längst ist dieses Instrument zu einem der tüchtigsten und attraktivsten Werbemittel von Steinway & Sons geworden. Denn auch wenn die Firma unter Pianisten eine Zustimmungsrate genießt, die jeden scheingewählten Diktator auf der Welt neidisch machen muss - Steinway-Angaben zufolge spielten in der Saison 2007/08 99 Prozent aller Konzertpianisten Geräte aus ihrer Fabrikation: Geld verdient wird mit den betuchten Amateuren und Statussymbolkäufern, die sich je nach Größe für 53 300 bis 119 190 Euro Neupreis ihren Flügel ins Wohnzimmer stellen.

Auf seiner derzeitigen Deutschland-Tournee, der ersten seit 1992, war 314 503 schon in Berlin und München, nach seinem Gastspiel in Hamburg reist der Flügel über Düsseldorf weiter in die Schweiz, nach Holland und Belgien, vielleicht sogar nach Russland. In Hamburg spielte Vladimir Horowitz zweimal auf ihm: im Sommer 1986 und am 21. Juni 1987. Seine Rückkehr damals war ein unbeschreiblicher Triumph, umso mehr, als für den 1903 in Kiew geborenen Virtuosen Hamburg die Stadt war, in der seine Weltkarriere 60 Jahre zuvor ihren Anfang genommen hatte. Im Jahr 1925 hatte Horowitz die Sowjetunion Richtung Westen verlassen. 1926 spielte er in Hamburg für die Firma Welte-Mignon Klavierrollen ein. Eines Abends erreichte ihn die Bitte, jetzt und sofort für eine erkrankte Pianistin einzuspringen, die unter der Leitung des Dirigenten Eugen Papst das erste Tschaikowsky-Klavierkonzert spielen sollte. "Ich trank ein Glas Milch, rasierte mich und eilte zum Konzertsaal", erzählte Horowitz später. Schon nach den ersten Takten standen die Leute kopf, 3000 Karten für ein Wiederholungskonzert waren in zwei Stunden ausverkauft. Von da an setzte sich Horowitz als unerschrockener Virtuose durch, der mit irrwitzigen Tempi und furchterregender Fingerfertigkeit über die Tastatur zu rasen verstand, eine Art Schumi in Schwarz-weiß. 1939 emigrierte er nach Amerika, zog sich aber Mitte der 50er-Jahre aus dem Konzertsaal zurück. Im Gedächtnis der Musikfreunde hielt er die Erinnerung an sich durch regelmäßige Schallplattenaufnahmen wach. Bei seinem Comeback 1965 in der Carnegie Hall rühmte die "New York Times" die gereifte Interpretenpersönlichkeit. In seinen letzten Jahren erlebte das Publikum einen stets tadellos gekleideten Gentleman voller Witz und spitzbübischen Charmes, vor allem aber einen Maler berückend schöner Klangminiaturen, der mit unerhörtem Reichtum an dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und allenfalls Mezzoforte Preziosen wie die "Kinderszenen" von Robert Schumann, Chopin, Liszt und Sonaten des von ihm spät entdeckten Mozart spielte. Mit dem Instrumentenkoffer immer zur Stelle: Franz Mohr.

Weil Horowitz spät eine so große Reiselust entwickelte, entschied er sich schließlich, 314 503 bei Steinway in New York einzulagern. Von dort ließ sich das Instrument einfacher verladen. Für zu Hause bekam er einen anderen Flügel - den CD 443. Darauf entstanden kurz vor seinem Tod die letzten Plattenaufnahmen. Wanda Toscanini-Horowitz lag der Flügel seiner letzten Tage so am Herzen, dass sie ihn gegen das Hochzeitsgeschenk eintauschte. So ging 314 503 wieder in den Besitz der edlen Spender von einst zurück - und bereist seitdem die Welt.

"Noch immer bin ich mit diesem Flügel sehr verbunden", schreibt Franz Mohr. Inzwischen ist sein Sohn Michael zur obersten Qualitätssicherungsinstanz bei Steinway aufgestiegen - die beiden wiederholen auf ihre Art die dynastische Firmengeschichte ihres Arbeitgebers, bei dem bis zum Tod von Henry Z. Steinway 2008 immer noch jemand den klangvollen Familiennamen trug - ununterbrochen seit 1836.