Zwar sind weite Teile seines Schaffens kaum bekannt - mit der Melodie zur deutschen Nationalhymne aber schrieb Haydn seinen größten Hit.

Hamburg. Beethoven wurde taub und spätestens damit endgültig zum Misanthropen. Händel raste durch Höhen und Tiefen einer Musikvermarkter-Karriere. Mozart hatte es mit Frauen, Spirituosen und Schimpfworten. Schubert mit dem Traurigsein. Bruckner überkam immer wieder der Zwang, alles Mögliche manisch durchzuzählen. Und von Größen- und anderen Wahnvorstellungen Wagners wollen wir lieber gar nicht erst anfangen.

Die Liste berühmter Komponisten mit schwierigen Charakterzügen ist lang und auf kuriose Weise aufschlussreich, weil sie den Menschen neben der Musik entdecken lässt. Weil sie immer wieder dazu verführt, Leben und Werk miteinander abzugleichen oder aus der Biografie Schlüsse zu ziehen. Haydn, der Vielschreiber, der Vielgefeierte, das Idol von Mozart und der Lehrer von Beethoven, das Jahrhundertgenie, der Meister der klassischen Formen Streichquartett, Symphonie und Sonate - er fehlt dort. Ihm haftet der wenig aufregende Name "Papa" an. Nach wie vor. Hemingway wurde Jahrhunderte später auch so genannt, aber der hatte nun wirklich anderes in seiner Biografie zu bieten.

Generationen von sensationssuchenden Musikwissenschaftlern dürften Haydn für seine solide Verbindlichkeit verflucht haben. Der Lebenslauf des Hobby-Anglers ist auf den ersten Blick so unspektakulär, dass man schon froh über das völlig unnötige Wissen ist, er habe laut einer medizinhistorischen Studie an (wahrscheinlich brutal entfernten) Nasenpolypen gelitten. Was bleibt, ist oft nur das Anekdotische. Die Geschichte mit der napoleonischen Kanonenkugel beispielsweise, die dem greisen Komponisten 1809 frühmorgens in den Wiener Garten einschlug und verständlicherweise für einige Nervosität sorgte. Haydn, damals 77, rief nur: "Kinder, fürchtet euch nicht. Wo Haydn ist, kann nichts geschehen!"

Schön ist auch die Episode über Haydns Papagei, dem er das 1797 komponierte Kaiserlied so oft am Klavier vorgespielt haben soll, dass der aus London importierte Ziervogel entweder mitpfiff oder "Papa Haydn!" oder "Gott erhalte Franz den Kaiser!" krähte. Beide - der Papagei und die Komposition - haben Haydn überlebt. Letztere als spätere Melodie der deutschen Nationalhymne - und als einzige Verbindung des Österreichers zu Hamburg: Im Oktober 1841 gab's die Premiere des Deutschlandlieds, betextet durch Hoffmann von Fallersleben, vor dem Streit's Hotel am Jungfernstieg, gesungen von patriotischen Hanseaten.

Bewunderern der Wiener Klassik ist der Vorwurf der faden Vielschreiberei an Haydn egal. Ihnen massiert die Subtilität der haydnschen Kompositionen, ihre klassische Formsicherheit und pointensetzende Abwechslung die Seele. An Anhörungsmaterial herrscht kein Mangel: 107 Symphonien, 24 Opern, 14 Messen, zwei Oratorien, 20 Klavierkonzerte, 163 Klavier-Sonaten und 69 Streichquartette hat er hinterlassen, Kleineres noch nicht mitgerechnet. Insgesamt mehr als 1200 Stücke kamen zusammen, darunter Publikumslieblinge wie die "Abschieds"- oder die "Paukenschlag"-Symphonie, die "Jahreszeiten" und natürlich die "Schöpfung" als ganz besonders heftig gefeiertes Spätwerk. Allein für seine beiden Londoner Aufenthalte 1793 und 1794 hat Haydn 250 Stücke komponiert und in dieser Zeit so viel verdient wie in seinen zweieinhalb Dienst-Jahrzehnten als Hofkapellmeister in Esterházy. Ein Teil dieses Gehalts wurde in Burgenländer Wein ausgezahlt.

Wie es sich für ein Jahrhundert- und Originalgenie gehört, wurde das Musik-Talent des kleinen Joseph früh erkannt und gefördert. Der Sohn eines niederösterreichischen Wagenbauers, das zweite von zwölf Kindern, wurde aus Rohrau nach Wien verfrachtet, Chorknabe im Stephansdom sollte er werden. Der Stimmbruch beendete diese Karriere, eine andere ließ dann zunächst auf sich warten. Die Chance seines Lebens bot sich mit der Anstellung durch Fürst Nikolaus I. Esterházy, reich, mächtig, musikliebhabend. Als der Fürst 1790 starb, wurde Haydn im Alter von 58 Jahren von dessen Nachfolger zwangs- und frühpensioniert. Zeit für eine späte Solo-Karriere auf eigene Rechnung. Haydn ließ sich von einem geschäftstüchtigen Agenten zweimal nach London holen und den Erfolg massiv vergolden. Er war angeblich sogar so clever, immer nur gerade so viel an Notenmaterial herauszurücken, dass der Kurs dafür immer schön hoch blieb.

In der ländlichen Idylle war Haydn in einem sehr speziellen Dilemma. Einerseits konnte er kompositorisch tun und lassen und vor allem ausprobieren, was er wollte, andererseits war er ab vom Schuss und aufgrund seiner Position nicht in der Lage, sind in den bedeutenden Musikzentren Europas für Inspirationen umzuhören, noch nicht einmal nach Wien durfte er so oft, wie er gern wollte. "Ich war von der Welt abgesondert, und so musste ich original werden", schrieb er einmal.

Dass Haydn sich trotz der vermeintlichen Domestikenrolle nicht auf die unterwürfige Rolle des Klangtapetenlieferanten für fürstliche Zeitvertreibe beschränkt hatte, belegt der Satz, mit dem er seinen Dienstherrn zurechtwies, als der allzu sehr den vorgesetzten Besserwisser heraushängen ließ: "Durchlaucht, dies zu verstehen ist meine Aufgabe." Und obwohl Haydn auch im Bereich der Oper die Tinte nicht halten konnte, merkte er an den Werken Mozarts, wer auf diesem Gebiet die Nase vorn hatte und Wegweisendes leistete.

Doch wie das so ist mit dem Ruhm zu Lebzeiten - auch der von Haydn verblasste posthum. Schumann kanzelte ihn gönnerhaft als "gewohnten Hausfreund" ab und meinte: "Tieferes Interesse aber hat er für die Jetztzeit nicht mehr." Wagner machte sich über die "Kindlichkeit des geborenen Greises" lustig. Erst das 20. Jahrhundert wurde zur Zeit der Haydn-Renaissance. Man merkte und staunte darüber, wie varianten- und geistreich diese nur scheinbar so einfache Musik war, wenn man sie als das ernst nahm, was sie stets sein sollte: eine intelligente Auseinandersetzung mit Ideenreichtum und Format.

Einen leicht makabren Epilog hat das epochal bedeutende Künstlerleben des am 31. Mai 1809 Verstorbenen aber dann doch noch: 1820 wurden Haydns sterbliche Überreste in die Bergkirche von Eisenstadt, dem Esterházy-Familiensitz, gebracht. Der Kopf jedoch kam erst 1954 nach - der war in Wien geblieben, acht Tage nach der Beerdigung geklaut, weil man damals die abstruse These beweisen wollte, Genie sei in der Anatomie nachmessbar. Diese Pointe hätte Haydn sicher gefallen.