Talent, Antrieb, Geld und Ruhm - all das hatte der “King of Pop“ im Übermaß. Doch ein normales Leben zu führen, dazu fehlte ihm die Kraft.



Mythos in seiner eigentlichen Bedeutung heißt im Griechischen "sagenhafte Geschichte". Heute gehören zum Mythos auch Verklärung, Fetischisierung, träumerisches Schwärmen und kollektive Erinnerungen. An die Stelle von etwas Natürlichem tritt etwas anderes. Wer hätte dies in den vergangenen Jahrzehnten besser bedient als Michael Jackson, der seine Karriere als fröhlicher kleiner schwarzer Junge begann und der am Ende kein Alter, keine Rasse und kein Geschlecht mehr zu haben schien, sondern nur noch als Mythos lebte? Versteckt, vereinsamt und in einem zerstörten Körper.


1995, als er bei "Wetten dass . .?" auftrat, soll ihm bereits das vordere Stück seiner Nase gefehlt haben. Zahllose Korrekturen hatten sie zerstört, sodass er oft, um sie nicht zeitaufwendig kleben zu lassen, mit einem Mundschutz herumlief. Exzentrisch genug sah es aus und schien damit zu ihm zu passen. Zu einem Mann, der schon mal im Sauerstoffzelt schlief, eine Boa constrictor als Spielgefährten hatte oder sich gern mit dem Schimpansen Bubbles zeigte. 1988 hatte sich Jackson mit all den über ihn verbreiteten Absurditäten künstlerisch auseinandergesetzt. Im Video zu seinem Song "Leave Me Alone" (Lasst mich in Ruhe) saust er in einer Rakete durch einen Vergnügungspark, in dem Zeitungsseiten herumfliegen, auf denen steht "Michael baut Schrein für Liz Taylor", "Michael heiratet Alien", "Michael und Diana sind eine Person", "Michael will Knochen vom Elefantenmann kaufen", "Michael will sich einfrieren lassen". In "Scream", das er später mit seiner Schwester Janet aufnahm, sang er davon, dass ihn das ganze System zum Schreien bringe.


Michael Jackson, der künstlerisch ungeheuer produktiv war, hatte es bereits zu Lebzeiten geschafft, dass ungefähr so viele Geschichten über ihn in Umlauf waren wie Songs. Gewollt hat er das sicher nicht, aber gewusst, wie er ein anderes Leben führen könnte, hat er sicher auch nicht. Ein Mann, der abenteuerlich reich war, ein generationen-übergreifendes Idol, der die Popmusik revolutionierte und mit "Thriller" 1983 das erste filmisch erzählte Video in der Musik produzierte, der mit Paul McCartney im Duett sang, mit Martin Scorsese drehte und mit Naomi Campbell tanzte, der von den Präsidenten Ronald Reagan und Nelson Mandela empfangen wurde, der auf der Märchenfarm Neverland wie ein derangierter Prinz lebte, regte wie kein anderer die Fantasie seiner Fans an. Man dachte über ihn nach: Wie wird so einer alt, mit dieser Haut aus Pergament, diesem Gesicht, das am Ende aussah wie das einer alternden Hollywood-Diva? Doch dazu ist es nun nicht mehr gekommen. Wie viele andere, um die sich ein Mythos rankt, wie James Dean, Jimi Hendrix oder Elvis, starb auch Michael Jackson jung.

Wie wird eigentlich aus einem Menschen ein Mythos? Wieso konnten Marilyn Monroe, Marlene Dietrich oder Greta Garbo zu Mythen werden, während beispielsweise John Lennon, Walt Disney oder Alfred Hitchcock einfach nur berühmt sind? Unverwechselbar - eine der Voraussetzungen für die Entstehung eines Mythos - sind sie zwar ebenfalls, doch zum Mythos gehört das Geheimnisvolle, ebenso wie Exzentrik, Rätselhaftigkeit und ein abgeschirmtes Privatleben, aus dem gelegentlich pikante Details dringen. Auf keinen Künstler der vergangenen Jahrzehnte traf dies stärker zu als auf Michael Jackson.


Mit fünf Jahren konnte er singen und tanzen wie kein Zweiter. Wer heute eines seiner raren Interviews anschaut, die Jackson als Kind oder junger Mann gegeben hat, ist erstaunt darüber, wie scheu, schüchtern und zerbrechlich er wirkte. Mit wenigen Worten und sehr leise erklärt er, dass er keine Freunde habe, keinen Alltag kenne, niemandem "normal" begegnen könne. Andere Menschen existierten für ihn außerhalb seiner Familie nur als schreiende, ihm nachrennende oder ihn fotografierende Fans. Und man merkt ihm bereits an, dass er nicht viel Zeit in der Schule verbringen durfte. Er war unsicher - in allen Belangen des Lebens, außer auf der Bühne. In Martin Bashirs 2002 entstandenem Dokumentarfilm "Living with Michael Jackson" kann man den Star auf seinen Shoppingtouren begleiten, bei denen er unglaublich große, goldene Geschmacklosigkeiten kauft. Aber man kann eben auch von ihm hören, dass er schon als Kind kein Leben neben der unglaublich harten Arbeit kannte. Er wolle "der Wirklichkeit entfliehen", sagt er da, mit fremden Kindern alles kompensieren, was ihm als Kind verwehrt geblieben ist. Sämtliche Gerüchte über ihn tut er als Unsinn ab, mit der Bemerkung: "Von dem Moment an, als ich die meisten Platten aller Zeiten verkauft hatte, wurde ich verleumdet. Je größer der Star, desto größer die Zielscheibe."


Wer bereits als Elfjähriger Diana Ross als beste Freundin hat (sie war als Leadsängerin der Supremes neben der Musikerin Aretha Franklin in den 60er-Jahren die berühmteste schwarze Frau der Welt), der kann und wird sicher kein normales Leben führen. Sicher, es hatte auch vor Michael Jackson schon Kinderstars wie Shirley Temple, Jackie Coogan oder Judy Garland gegeben, doch das unfassbar talentierte Kind Michael konnte seinen Durchbruch zum Ruhm gleichzeitig mit der massenhaften Verbreitung des Fernsehens feiern.


1969, als Michael Jacksons Karriere begann, waren erst vier Jahre in den USA vergangen, in denen die Schwarzen gleichberechtigt wurden und überall im Land auf den gleichen Plätzen im Bus sitzen durften wie die Weißen. Schwarze Künstler wie Ella Fitzgerald oder Sammy Davis junior hatten wenige Jahre zuvor noch nicht in den Hotels übernachten dürfen, in denen sie zuvor stundenlang das Publikum unterhalten hatten. Michael Jackson war der erste schwarze Künstler, der für Millionen weißer Fans zum Idol wurde. Und der seinen sagenhaften Ruhm offen ausleben durfte. Es gab keinen einzelnen Künstler, der einen solchen Einfluss auf die globale Popkultur ausgeübt hat. Heute wird die amerikanische Popmusik wesentlich von schwarzen Künstlern dominiert. Viele davon, unter ihnen Usher, Jennifer Hudson, Lionel Ritchie, Queen Latifah und Stevie Wonder - auch der war ja mal ein Kinderstar - haben gestern an der Trauerfeier in Los Angeles teilgenommen. Michael Jackson hat mit seiner Kombination von Talenten, seinem neurotischen Arbeitstrieb und seiner Exzentrik unglaublich viel hinterlassen. Über seinen eigentlichen Antrieb im Leben hätte man wohl sagen müssen: "Der will doch nur spielen."