Hamburg. Bevor sich ein durchgestylter Tastenturner wie Lang Lang bei einem seiner unzähligen Interviews mit einem Abteilungsleiter-Kugelschreiber in der Hemdtasche erwischen ließe, würde er wohl eher auf Blockflöte umschulen. Krystian Zimerman, der äußerst selten Interviews gibt, hat einen solchen 08/15-Stift in der Hemdtasche, und es ist ihm total egal. Es gibt Wichtigeres, signalisiert immer wieder aufblitzender Schalk in seinen Augen. Genau genommen gibt es aber nur eins, was wichtig genug ist, um ihn aus seiner Baseler Virtuosenklause zu locken. Das Monster mit den Tasten, mit den unendlich vielen Widrigkeiten auf dem Weg zur unmöglichen Perfektion.
1975 hat Zimerman, damals noch keine 20, als jüngster aller Teilnehmer den berühmten Warschauer Chopin-Wettbewerb gewonnen. Andere drehten nach solchen Sensationen durch, verglühten mal früher, mal später irgendwo zwischen New York, Wien, Salzburg, Tokio, Berlin.
Je älter, je besser Zimerman wurde, desto mehr entzog er sich dem hungrigen Publikum. Wurde von der grauen Eminenz für Chopin, Beethoven, Schubert, Ravel oder Brahms zum graumelierten Phantom. In den letzten zwei Jahrzehnten hat er sich als sein eigener Manager nie mehr als 45 Konzerte jährlich abgerungen, da konnten die Intendanten noch so oft betteln. "Ein Konzert ist immer nur die Summe von möglichst wenigen Kompromissen", und die kann er nun mal nicht ertragen. "Ich beschränke mich nicht - ich würde ja gern 200 spielen, wenn ich könnte."
Seine letzte Solo-CD, traumhaft dahingezauberte Debussy-Preludes, hat Zimerman vor 15 Jahren veröffentlicht. Nicht, daß er keine mehr machen wollte, im Gegenteil. "Ich bin einfach nicht fähig dazu, all das, was ich sagen will, in eine reine Audio-Spur hineinzuquetschen. Jeden Tag sage ich, daß ich eine Aufnahme mache", jetzt gerade sei er wieder in einer Sitzung, "und ich weiß, sie wird wieder damit enden, daß ich . . . " Auch der Satz bleibt unvollendet. Aber: "Meine Plattenfirma hat keine Kosten dadurch, ich mache und finanziere die Aufnahmen selbst - und habe überhaupt kein Problem damit, die Bänder wegzuwerfen."
Pro Jahr sei er mindestens fünf bis sechs Mal im Studio, berichtet Zimerman mit dem Tonfall größter Selbstverständlichkeit. "Was ich jetzt aufnehme, davon weiß meine Plattenfirma gar nichts." Und wird sie vielleicht auch nie erfahren. Seit 1975 versucht er, ein Versprechen an seine Plattenfirma einzulösen und die Chopin-Sonaten aufzunehmen. Es sollte noch nicht sein.
Nicht nur an die Musik, auch an deren Transmissionsrahmen legt Zimerman immer wieder Hand an. Ist Not am Steinway, greift er selbst zum Spezialwerkzeug, vor jedem Konzert gibt er seinem Instrument eigenhändig jenen Feinschliff, den das jeweilige Programm benötigt. "Ich suche keinen schönen Flügel - ich suche einen adäquaten Flügel, der mir antwortet, wenn ich etwas von ihm will." Früher reiste er mit seinem eigenen Flügel um die Welt, mittlerweile präpariert er, weil Kosten und Kontrollen immer erdrückender werden, je nach Anlaß und Saal eine vorbereitete Klaviatur, die er vor Ort in den Rahmen einsetzt, um, wo immer auf der Welt er ist, "so viel Zimerman wie möglich in den Raum zu bringen".
Zimermans Welt und Welt-Ersatz ist sein Studio in der Schweiz - Regale voller Bücher, Noten, CDs, Bänder. Kein Fernseher, keine E-Mail-Adresse. "Im Januar bin ich genau zwei Mal vor die Haustür gegangen, ich wohne dort 22 Stunden am Tag, schlafe dort, arbeite dort, hab' dort mein Büro. Ich hab' so viel zu tun! So viele neue Bücher, so viele Noten, die jetzt endlich eingetroffen sind. Wenn die kommen, dann bleibt das Essen stehen. Das ist das Leben, das ich führen möchte. Da bin ich glücklich."
Soll man ihn dafür bemitleiden, beneiden oder bewundern? Paßt dieses Abkapseln zum Drang eines Künstlers, sich vor anderen zu produzieren? "Nö", entgegnet Zimerman, "damit bin ich nicht einverstanden. Ich bin ein viel zu großer Egoist. Erst mal möchte ich die Musik selbst erleben. In dem Moment, in dem das passiert, glaube ich daran, daß ich sie auch anderen schenken kann. Ich setze mich jedenfalls nicht hin und spiele etwas für andere. Dabei würde ich mich schrecklich fühlen. Ich will Grenzen überschreiten im Konzert. Wenn das losgeht, bin ich wie ein wildes Tier."
Das größte von Zimermans Mankos: Der Mann ist nachtragend. Weniger gegenüber anderen, das wäre im Rahmen des Branchenüblichen. Gegenüber sich selbst. Einen seiner größten Fehlgriffe, 1983 getan, konnte Zimerman sich jahrzehntelang nicht verzeihen - Brahms' 1. Klavierkonzert, mit den Wiener Philharmonikern und Leonard Bernstein im Musikvereinssaal aufgenommen. Ein Alptraum, denn was schiefgehen konnte, ging auch schief. Zimermans Instrument hatte einen Unfall auf der Autobahn von Salzburg nach Wien, "ich mußte einen Flügel spielen, der für Mozart vorbereitet war und nichts über Mezzoforte von sich geben konnte". Weil das Konzert gefilmt werden sollte und jemanden das Weiß der Wände störte, hatte man den Saal, weltberühmt für seine Akustik, mit dicken braunen Teppichen ausgeschlagen. Sieben Kameras, Dünsten unter den Scheinwerfern. "Ich wurde mit einer braunen Make-up-Paste eingeseift - einmal mit den Händen ins Gesicht, und das Konzert war abgeschrieben. Ich bin nur noch gerutscht, hab' nur ganz langsame Tempi gespielt."
Zwei Jahre zuvor hatte Zimerman eine unbefriedigende Aufnahme mit Karajan per Veto ausgebremst. Diesmal war seine Plattenfirma cleverer. Das Kleingedruckte ließ kein Schlupfloch mehr. Die Platte erschien, das Kind war im Brunnen. Insbesondere die guten Kritiken haben ihn sehr geschmerzt.
Seitdem ist viel passiert. Ende der 90er Jahre beispielsweise hatte Zimerman es leid, daß die beiden Chopin-Klavierkonzerte nicht so verstanden und gespielt wurden, wie sie es verdienen. Also stellte er anläßlich Chopins 150. Todestag ein Orchester aus polnischen Musikern zusammen, organisierte eine Tournee bis ins letzte Detail, spielte den Solo-Part und dirigierte auch noch. Das Konzert im Herbst 1999 in der Laeiszhalle war ebenso wie die CD eine Sensation, am Ende der Tournee war Zimerman zweierlei: um diese Erfahrung reicher, um 100 000 Euro ärmer. Und dennoch hat er seitdem "nichts Vergleichbares genossen".
22 Jahre nach dem Wiener Fiasko fühlte sich Zimerman bereit für einen zweiten Versuch, das Schlachtroß Brahms Eins vor laufenden Aufnahmegeräten in die Arena zu führen, diesmal mit den Berliner Philharmonikern und Sir Simon Rattle. Zur Vorbereitung hat er sich mehr als 80 Einspielungen angehört. "Von den Fehlern anderer lernt man am meisten. Es gibt da so viele Standardfehler, die alle Orchester machen, die alle Pianisten machen." Doch weil die Studiozeit nicht genügte, um diese Fehler nicht zu begehen, schafften Zimerman und Rattle nur zwei Sätze, fürs Finale traf man sich vierzehn Monate später wieder. Ein Ding der Unmöglichkeit. In diesem Fall aber unglaublich gut gelungen. Diesmal ist Zimerman tatsächlich mit sich und dem Resultat im Reinen. "Wenn ich etwas fertig geschnitten habe, höre ich es nie mehr an. Bei dieser Einspielung geht es aber nicht um besser oder schlechter. Das damals in Wien war nicht meine Aufnahme." Gibt es noch mehr Aufnahmen, die Zimerman für revisionsbedürftig hält? "Alle meine frühen Aufnahmen." Als Spaß war das ganz bestimmt nicht gemeint.
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