Zeitgenössische Musik als sinnliches Ereignis: Das Klangforum Wien führt es auf Kampnagel mit einem betörenden “Symposion“ vor.

Hamburg. Freie Platzwahl, damit kann sich ein Klassikhörer gerade noch zurechtfinden. Aber rote Futons und Kissen statt Bestuhlung? Liegen statt sitzen? Unschlüssig staksen die Besucher im schummrigen Saal K6 auf Kampnagel zwischen den Matten herum; viele ziehen sich ihre Kissen lieber doch an die schwarz verhangenen Wände, als das Klangforum Wien Gustav Mahlers "Trinklied vom Jammer der Erde" aufführt.

Das "Trinklied" ist der Auftakt, das einzige tonale Werk des Abends - und das einzige, das das Publikum nüchtern zu hören bekommen wird. Es ist kein Versehen, dass Guido Renis "Trinkender Bacchus" seinen Strahl gleich doppelt lässt. Mit voller Absicht haben die Elbphilharmonie-Konzerte den weinlaubbekränzten Barockputto verschwommen aufs Programm gedruckt. Schließlich ist das "Symposion" des Klangforums Wien eines im ursprünglichen Sinne des Wortes: keine staubtrockene Häufung von Referaten, sondern eine Zusammenkunft mit obligatorischem Rausch. So erklärt es Sven Hartberger, Intendant des Ensembles und Moderator, in charmant wienerischem Tonfall: Dieses Symposion mit seinem lockeren Wechsel von Vortrag und leiblichem Genuss, der Form nach von den alten Griechen entlehnt, steht im Zeichen der Musik. Genauer, der zeitgenössischen Musik, schließlich zählt das Klangforum Wien zur Crème der Neue-Musik-Szene. Und dass die Teilnehmer sich im Laufe des Abends gepflegt betrinken sollen, ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, dass sie bessere Menschen werden: großzügig, ehrlich und immer noch bewusst.

Alltagsbeobachtungen eines feinfühligen Popmusikers

Die Mägen sind eher leer, die Sonne dringt an diesem Mainachmittag bis ins Foyer. Da sorgt der Welschriesling 2010, trocken, umstandslos für gehobene Stimmung. Wie anschließend an der Platzwahl im Saal zu erkennen ist: Es sind schon mehr Futons belegt. Allerdings sitzen viele Hörer bei Olga Neuwirths "... Miramondo multiplo ..." aufrecht da, als fürchteten sie, die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren.

"Ich habe schon einen im Tee", gesteht in einer Pause die junge Afghanin Atefa Omar, die gerade mit dem Abitur fertig ist. "Solche Musik kann ich mit Wein besser hören, da lasse ich mich mehr gehen." Hergekommen ist sie mit ihrem Freund, der ist Musiker und komponiert selbst. Allenthalben fliegen musikalische Begriffe durch das Foyer, wo die Gäste sich mit einer Riesling-Spätlese "Schwarzer Herrgott" 2011, trocken, zu Lamm-Hackbällchen und gefüllten Weinblättern an die weißen Biertische gesetzt haben.

Aber längst nicht alle sind Fachleute. Die Rentnerin Christa Jacobsen hat die lockere Form gereizt: "Man muss nicht stundenlang still sitzen." Berührungsängste mit Neuer Musik hat sie nicht. "Wenn ich mir etwas vorstellen kann, einen Seelenzustand oder auch etwas Konkretes wie Großstadtgewimmel, dann kann ich auch etwas damit anfangen." Und ihr Mann Bodo Lüpker fügt hinzu: "Neue Musik rüttelt mich manchmal mehr auf als vertraute. Wir reden doch viel zu selten über Dinge, die wir empfinden."

Cuvée "Dialog" 2010 oder Xinomavro "Strantza Single Vineyard" 2008. Beat Furrers zischelnde "Fama-Szenen" oder das Violinkonzert "Anahit" von Giacinto Scelsi - längst sind die Besucher eingetaucht in den Rhythmus von Hören, Trinken, Reden. Uhrzeit? Keine Ahnung. Der Himmel über dem Foyer färbt sich allmählich tiefblau, die meisten Besucher liegen jetzt auf den Futons. Wenn Emilio Pomàrico den Musikern, jedes Mal in anderer Besetzung, den Einsatz gibt, herrscht gespannte Stille. "Wer, wenn ich schriee, hörte mich ..." von Georg Friedrich Haas flutet Bauch, Brustkorb, Gliedmaßen direkt. Da kann der Kopf wattiert sein, wie er will. Von nebenan ertönt zartes Schnarchen.

Die Belegung von Futons und Biertischen nimmt nun sichtlich ab, einige Besucher haben aufgegeben. Längst ist der Rausch vollständig, driften die Gespräche ins Alberne. Die Reminiszenz an den Dessertwein Cuvée Auslese 2009, lieblich, mischt sich im Kopf mit Terry Rileys repetitiven Klangflächen "In C" zu wirbelnden Wölkchen. Und während sich der Hörer dem Schlaf ergibt, scheinen die Pultleuchten an die Saaldecke zu steigen und dort eine Milchstraße zu bilden.