Der Reinbeker Georges-Arthur Goldschmidt musste 1938 im Alter von zehn Jahren sein Zuhause verlassen. Vergessen kann er die Zeit nicht.

Hamburg. Die Geschichte des Parisers Georges-Arthur Goldschmidt ist eine, die vom Überleben erzählt, von Flucht und Angst um Leib und Leben. Vom Ausgestoßen- und Rausgeschmissenwerden, von Rettung, Schmerz, Heimweh, Schuld, Selbstbestrafung, von Lust und Hass. Von der Heimat, der neuen und der alten. Von Deutschland und von Frankreich. Sie erzählt vom Wiederkommen.

Rothenburgsort, Tiefstack, Billwerder/Moorfleet, sagt Goldschmidt, seine Stimme kratzt ein wenig.

Die 27 Minuten vom Hauptbahnhof nach Reinbek, die kennt er noch blind, die kennt er auswendig. Das ist die Strecke, die er an einem Tag im Jahre 1938 fuhr, um am Hauptbahnhof in den Zug zu steigen. Auf dem äußersten Gleis. Der kleine Jürgen, wie er damals noch hieß, war ein "Schädling", ein "Geburtsschuldiger", "lebensunwert". So hatten es die Mächtigen festgelegt, die Mächtigen des Landes, das seines war.

Er entstammte der Familie des Hamburger Oberlandesgerichtsrats Dr. Arthur Goldschmidt, und die war nicht mehr wohlgelitten unter den Nazis. Die jüdischen Vorfahren sollen das Blut der Goldschmidts verdorben haben, für immer. Und deshalb mussten die beiden Söhne der Goldschmidts ihr Zuhause verlassen: in Richtung Italien zunächst, dann nach Frankreich.

Das Land also, das seit mehr als sieben Jahrzehnten Heimat ist für Georges-Arthur Goldschmidt. Er überlebte jenseits des Rheins den Rassenwahn und das Kriegstreiben der Nazis; er, der als Zehnjähriger in Reinbek "Die Fahne hoch" sang. Georges-Arthur Goldschmidt sagt: "Sie können froh sein, dass Sie in einem Deutschland leben, das mit dem Deutschland von damals nichts mehr zu tun hat."

Goldschmidt überlebte in einem Internat in den Alpen, später versteckte ihn ein Bauer. Nach dem Krieg wurde Goldschmidt Gymnasiallehrer in Paris. In den 60er-Jahren begann er mit dem Schreiben. Er übersetzte Goethe, Kafka und Handke; schrieb Essays und Literaturkritiken und dann auch Erzählungen. Goldschmidt gilt als einer der wichtigsten deutsch-französischen Kulturvermittler, und wenn er, der längst Pensionierte, in Pariser Schulen geht, dann berichtet er den jungen Leuten, den Nachgeborenen, aus einem bewegten Leben. So, wie er das in seinen Büchern tut, die die Umstände seiner Biografie im Namen tragen: "Die Absonderung", "Die Aussetzung", "Die Befreiung" heißen sie; und der Titel der neuen Erzählung lautet "Ein Wiederkommen" (S. Fischer, 192 S., 18,99Euro).

Ein Wiederkommen, sagt Goldschmidt, "das ist kein Zurückkommen". Er ist gerade 84 geworden und auf Einladung der Buchhandlung Heymann in Hamburg. Am Abend ist eine Lesung im Radiohaus des NDR, und jetzt sitzt er im Produktionsstudio 1. Auf einem roten Sofa mit Blick ins Gegenlicht eines sich neigenden Tages in Rotherbaum, den der Mai mit einer überraschenden Wärme überzog: Jetzt braut sich draußen etwas zusammen. In Deutschland, erklärt Goldschmidt, habe man das Unheil doch eigentlich kommen sehen: so obrigkeitsgläubig, wie die Deutschen waren. "Ich hasse Autoritäten!", ruft Goldschmidt. Er schneidet mit dem Zeigefinger die Luft.

In den Erzählungen durchlebt er mit seinem Alter ego Arthur Kellerlicht die bitteren Gefühle und existenziellen Nöte des ausgesetzten Knaben. Goldschmidts Prosa mäandert durch den Stoff seines Lebens, sie greift in veränderter Form auf immer dieselben Motive zurück: den Schmerz desjenigen, der sich in einem fremden Land mit der Knute züchtigen lässt und über den körperlichen Schmerz das Heimweh und die Sehnsucht nach den Eltern vergessen will. Und den politischen und humanistischen Furor des auf dramatische Weise Betroffenen. Wer mit Goldschmidt spricht, der spürt wie beim Lesen der Erzählungen die identifikatorische Gefangennahme durch das Schicksal: Goldschmidt ist immer noch der kleine Junge, der einfach weggeschickt wird, der mit dem Tode bedroht ist.

Er ist der Junge, dessen Mutter die NS-Zeit nicht überlebt und dessen Vater an den Folgen der KZ-Gefangenschaft in Theresienstadt stirbt; 1947, ohne dass ihn Goldschmidt wiedersieht.

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Die dramatische Lebenserfahrung ist zu großer Literatur geronnen. Und weil es dem Mann nicht nur ums Schreiben geht, erhebt er im Gespräch immer wieder seine Stimme, er tränkt seine norddeutsch geerdeten Worte in französische Sprachmelodien. In eleganten Wendungen wären sie bei Goldschmidts Erzählstoff deplatziert, und deswegen sagt er auch mal derb: "Diese Scheißnazizeit."

Wenn ein Mensch sich gerade so vor dem Brand seiner Wohnung in Sicherheit gebracht hat, dann bleibt dieses Ereignis minutiös im Gedächtnis haften. Man weiß dann bis an sein Lebensende, erklärt Goldschmidt, "das Kennzeichen des Feuerwehrwagens".

Der Blick des deutschen Offiziers, der die französischen Dörfer nach "unwertem Leben" absucht. Die Gier, mit der ein Junge dem Klang seiner Muttersprache nachlauscht: Die Soldaten, die ihn vernichten wollen, sprechen sie.

Das Trauma erinnert man in allen Details. Und auch die wichtigen Erfahrungen, die ein Leben prägen. Sie sind eingebrannt. Goldschmidt reiste 1949 als 21-Jähriger erstmals wieder nach Reinbek. Es ist die Reise in eine Vergangenheit, seine Heimat gibt es nicht mehr - obwohl sich doch vieles gar nicht verändert hat. "Sie standen da, backsteinrot mit all den vertrauten Türmen: Michel, Nikolai, Rathaus, es fehlten aber Petri und der Katharinenturm, an dessen Fassade er als Kind die Backsteine bewundert hatte, die schon seit zwei Jahrhunderten übereinandergeschichtet dort lagen. Eine Beklemmung stieg in ihm hoch und zerrte in seiner Brust, was hieß das, man hatte doch immer und überall und immer wieder von der Vernichtung Hamburgs gehört, es sei unter den Bomben untergegangen, und nun lag es da, wie unversehrt vor seinen Augen", schreibt Goldschmidt in "Ein Wiederkommen".

Es ist kein Deutschland, in das er zurückkehren kann. Die Schwester wohnt mittlerweile in dem Reinbeker Familienhaus, man nötigt ihn dazu, keinen Anspruch auf das Erbe zu erheben. Er ist unerwünscht. Er fragt sich, ob die Leute, die ihm an den Landungsbrücken oder anderswo begegnen, nicht gerade noch in Neuengamme gefoltert haben? Er fühlt sich schuldig, weil er in Frankreich überlebt hat, während Millionen sterben mussten: "Hitler und die Nazis, das fühlte er, als sei es seine Schuld, er hatte die Heimat verpasst, warum war er für sie kein richtiger gewesen, wie doch alle Menschen sonst?"

Das Bild, das er in "Ein Wiederkommen" von Deutschland zeichne, gefalle dem Leser sicher nicht, sagt Goldschmidt. Er streicht sich über den Unterarm, über den sich ein Ekzem ausbreitet. "Manchmal will ich auch provozieren. Schuld ist keiner von denen, die meine Lesungen besuchen; es geht um eine politische Verantwortung, die immer gilt." Er ist oft in Reinbek gewesen, das Haus seiner Kindheit an der Kückallee hat er sich auch einmal angesehen: 2009 hat ihm Reinbek die Ehrenbürgerschaft angetragen.

Goldschmidt ist in zwei Sprachen zu Hause. Deutsch war die Sprache für Dinge, die Deutschland nicht betrafen. Über Deutschland formulierte er immer auf Französisch. "Ein Wiederkommen" hat er zuerst auf Französisch geschrieben. Und dann auf Deutsch; er fange damit langsam an, Deutsch zu schreiben über Deutschland. Und das Heimweh, "das kommt jetzt wieder", sagt Goldschmidt, "in Anfällen, immer dann, wenn ich nicht damit rechne". Ist die Vertreibung aus der Heimat eine Wunde, die sich nie geschlossen hat?

"Ich weiß es nicht, können Sie mir das sagen? Ich vermute, sie hat sich nie geschlossen, nein."