Sophie Hunger, geboren in Bern, begeistert mit dem neuen Album “1983“ und festigt damit ihren Ruhm - und sie ist mehr als eine Jazzsängerin.

Zürich. Der Name klingt, als wäre er erfunden. Aber das brauchte Sophie Hunger nicht. Im Safiental in Graubünden, da, wo ihre Mutter herkommt, heißen viele so. Hunger. Schon als Kind wusste sie: Hunger ist ein geheimnisvolles und starkes Wort. Aber wie kann man so heißen?, fragte sie sich. Guten Tag, ich heiße Entbehrung. Hallo, ich heiße Mangel. Vor ein paar Jahren hat sie den Vaternamen Welti abgelegt und Mutters Hungernamen angenommen. Wie kann man denn so heißen?, fragen sich die Leute jetzt. Sophie Hunger. Die Weise mit dem Loch im Bauch.

Sophie Hunger ist der bedeutendste Schweizer Popstar seit Wilhelm Tell. Vor zwei Jahren erschien ihr Debütalbum "Monday's Ghost", das mit seiner schwerelos melancholischen, unmäßig sehnsuchtsvollen Musik und der Vielfalt der Sprachen - Hunger singt auf Englisch, Französisch, Deutsch und Schweizerdeutsch - Hörer und Kritiker begeisterte. ITunes führt ihre Musik als Jazz, aber Hunger ist keine Jazzsängerin. Ihre Stimme lässt an PJ Harvey denken, auch an Katharina Franck aus den Anfangstagen der Rainbirds.

Vor allem die im Pop ungewöhnliche Posaune lenkt die Fantasie des Hörers nach New Orleans. Bass und Schlagzeug verhaken sich manchmal so ineinander wie im Jazzrock. Oft schleppt sich der Sound einer halbakustischen Gitarre durch die Songs. Das Klavier tönt so behelfsmäßig, als spiele sich im Hotelfoyer nachts um drei der Portier den Kummer von der Seele. Und manchmal klingt Sophie Hunger wie die Dylan vom Zürisee.

Jetzt ist ihr zweites Album erschienen, "1983". 1983 ist ihr Geburtsjahrgang, das Lied eine assoziativ wirkende, hermetische Bestandsaufnahme der eigenen Generation. "1983, zeig mir deine Finger, man fragt nach deinem Abdruck. 1983, wo sind deine Stimmen? Wo sind deine Ausnahmen, deine Mongoloiden? Wo sind deine Dichter, deine Zweifel, deine Maden?"

Komm, bitte sing mir ein Volkslied, auch wenn es das nicht mehr gibt

Bei so vielen Fragen liegt auf der Hand: Die Antwort steht noch aus. Der Menschenjahrgang 1983, gewachsen an den Hängen und in den Tälern der Schweiz, hat seine Signatur noch nicht preisgegeben. Und Hungers Bilanz klingt nicht so, als wäre da Großes zu erwarten. "Komm, bitte sing mir ein Volkslied / auch wenn es das nicht mehr gibt", singt sie im Refrain, am Ende verspricht sie: "Dann singe ich dir ein Volkslied / weil es alles ist, weil es alles ist, was ich hab."

Sophie Hunger ist eine Gerettete. Bis ihr vor ein paar Jahren zwei begabte Gitarrenjungs beim Bier am Zürichsee Komplimente für ihre Stimme machten, hatte die fünffache Studienabbrecherin keinen Gedanken an eine Karriere als Musikerin verschwendet. "Ich habe als Kind immer zu allem mitgesungen, was bei uns zu Hause so lief: Aretha Franklin, Ray Charles. Ich wollte immer so singen, dass man's nicht hört. Deckungsgleich. Aber ich hatte einen Riesenrespekt vor der Musik."

Mit Anfang 20 wäre Sophie Hunger fast das klassische Versagermädchen aus der gehobenen Bourgeoisie geworden. Hochbegabt, ziemlich gebildet, etwas überspannt und zu nix Lust. In ihren Nächten wartete sie oft vergebens auf den Schlaf. Kellnern bis spät war das Einzige, wofür sie sich geeignet hielt. Dann rief einer von den Gitarrenjungs bei ihr an und lud sie ein, ein paar von ihren Sachen zu einer Probe mitzubringen. Sie hatte noch gar nichts. Aber als hätte sie auf die Einladung gewartet, sprudelten fortan Songs aus ihr heraus. Es musste nur einer kommen, dieser Weisen ihre Lieder abzuverlangen. Weil sie das Einzige sind, was sie hat.

Die Platte "1983" verhält sich zum Hörer wie die Zecke zum Fleisch. Wer sie nur einmal hört, findet sie womöglich harmlos. Man kann sie wieder rausziehen, und nichts passiert. Legt man sie öfter auf, verbeißen sich einzelne Wörter oder Melodien schwer extrahierbar im Gemüt. Man will immer wieder hören, wie lustig schweizerisch Sophie Hunger das R in Irak mitten im englischen Text zu "Invisible" rollt. Oder man wartet auf den Zorn, den sie in die Zeile "your massive, massive lack of self control" legt. Oder man will noch mal mit ihr davonschweben im sanft traurigen "Le vent nous portera" der französischen Band Noir Désir, der einzigen Coverversion auf der Platte. Und wie schön die Phrasierung der großen Soulsänger auf Hunger abgefärbt hat, hört man gleich im Eröffnungsstück "Leave Me With The Monkeys".

Als Diplomatenkind hat sie eine von Ortswechseln strukturierte Biografie

Auch mit "1983" wurde Sophie Hunger sofort zur Nummer 1 in den Schweizer Charts. Konzerte in diesem Sommer auf dem Jazzfestival von Montreux, in Prag, Paris, Brüssel, Ljubljana, Wien, London, New York oder Hamburg (13. August, Dockville) rücken den Ruhm auch jenseits der Independent-Szene in greifbare Nähe.

"Ich bin so froh, dass das alles passiert ist", sagt sie in ihrem Beinahe-Hochdeutsch. "Es kommt mir vor, als hätte ich endlich eine Aufgabe - und auch einen Platz. Und manchmal denke ich: Es ist alles vorbei." Dann wäre auch "Sophie, Popstar" nur eine Filmspule in ihrem Leben. Wie alles vorher. Als Diplomatenkind hat Sophie Hunger eine von Ortswechseln strukturierte Biografie - Bern, Bonn, London, Zürich. Bedingt mondän, unbedingt bruchstückhaft, etwa, was Freundschaften betrifft. In jeder Stadt begann ein neues Kapitel, ein neuer Film, ein neues Leben. In diesem nimmt sie nun alles in sich auf, was reingeht, Intensität bis zum Anschlag. Ihr Künstlername sagt, was sie jetzt, endlich, aufs Leben hat: so viel Hunger.