“Der Feind im Schatten“ ist der letzte Roman des Bestellerautors Henning Mankell mit dem traurig-genialen Ermittler Kurt Wallander.

Seltsame Sachen macht dieser Mann: reinigt seine Dienstwaffe, packt sie in eine Plastiktüte und vergisst sie später, nach reichlich Wein und Schnaps, im Restaurant. Ein anderes Mal findet ihn seine Tochter nackt und bewusstlos auf den Badezimmerkacheln - Insulinschock. Oft sitzt er im Garten und starrt einfach nur vor sich hin. Schwer vorstellbar, dass es glückliche Szenen sind, die sich vor seinem inneren Auge abspielen.

So weit, in Kürze, der Zustand des derzeit wohl beliebtesten fiktiven europäischen Kommissars, Kurt Wallander, 60, der in "Der Feind im Schatten" (Zsolnay Verlag) zur finalen Ermittlung antritt. Dann winkt der Ruhestand. Das ist gut für ihn, Wallander, das ist auch gut für den Leser, der spürt: Der Mann hat seine besten Tage längst hinter sich. Der Feind im Schatten - das ist gewissermaßen auch Wallander selbst. Seine jüngere, überlegene Version, die nur noch als Abbild in der Vergangenheit existiert. Tempi passati . Und jetzt muss ein anderer ran - nur wer?

Es ist ja nicht so, als träfe uns sein Abgang unerwartet. Hatte sein Schöpfer Henning Mankell doch schon mehrfach in Interviews angekündigt, mit der Romanfigur könnte es bald zu Ende gehen. Und trotzdem ist da dieses Gefühl, das mit jeder gelesenen Seite wächst und das am ehesten zu vergleichen ist mit einem wehmütigen Bauchziehen am letzten Tag eines sechswöchigen Sommerurlaubs. Süßer Abschiedsschmerz: So schön wird's nie wieder.

Aufhören, wenn es am schönsten ist - diese Weisheit zu befolgen fällt nicht nur Politikern und Vorstandschefs schwer. Auch Romanhelden haben ihren Zenit meist überschritten, wenn sie die Dienstmarke hinpfeffern. Nun zählte Wallander nie zu den Hoppla-hier-komm-ich-Mackern, den Nachwuchstalenten, denen man bei den ersten Gehversuchen im neuen Job das schwitzige Händchen hielt. Misanthropisch war er eigentlich schon, als wir ihn 1991 in "Mörder ohne Gesicht" kennenlernten, einsam und ein großer (Selbst-)Zweifler. Ein alter Mann bereits, als er erst in seinen Vierzigern war.

Aber es sind ja meist die Anti-Männer, die Grenzgänger und Borderliner mitsamt ihren Macken und dem verhängnisvollen Hang zu Wutausbrüchen, an denen das Fanherz besonders treu hängt. Darum ist ihre Heldenzeit begrenzt, ihr Ruhm vergänglich. Denn irgendwann ist jeder noch so große Kampfgeist aufgebraucht. Ob "24"-Ikone Jack Bauer, Horst Schimanski, der einarmige "Polizeiruf 110"-Kommissar Tauber, Raymond Chandlers Berufsmelancholiker Philip Marlowe oder eben der Schwede Wallander - sie alle haben sich an ihrer Umwelt wund gerieben, stellvertretend für uns an der Gegenwart abgearbeitet und sich so oft eine blutige Nase geholt, dass es irgendwann zum Knock-out kommen musste. Die zerfurchten Gesichter erzählen von verlorenen Schlachten.

Kommissar Tauber alias Edgar Selge etwa ließ die Kollegin nach neun gemeinsamen Kripo-Jahren mit der Weihnachtsgans sitzen und verdrückte sich in die stille Winternacht. Das war zwar nicht stilvoll, aber typisch für diesen selbstmitleidigen Ermittler mit dem asketischen Charme. Altmeister Derrick wurde schnarchig-bürokratisch zu Europol befördert, fernab vom Bildschirm. Götz Georges Schimanski legte einen Abgang mit Event-Charakter hin: am Flugdrachen über Duisburg. Für einen, der Türen nicht öffnet, sondern eintritt, mag das Sinn ergeben. Und genau genommen war's ja nur eine verlängerte Heldenpause - bevor der Ruhrpott-Anarcho-Polizist wieder zur Dienstwaffe griff.

Und was Jack Bauer betrifft, den testosterongesteuerten Top-Agenten, der uns nach der aktuellen achten Staffel nun den Rücken kehrt: Den Teufel wird er tun und sich von Terroristenorganisationen oder der Regierung aus dem Weg räumen lassen. In Schutt und Asche legen wird er alles und der Welt samt ihrer ganzen Schlechtigkeit den ausgestreckten Mittelfinger zeigen - und dann im Kino wiederauferstehen, so ist es zumindest versprochen.

All das, so viel steht fest, sind keine ernst zu nehmenden Optionen für Kurt Wallander, den Sinnsucher, Teilzeit-Alkoholiker und Verfechter von Tiefkühlmahlzeiten. Erst recht nicht der Harry Pottersche Schlusssatz "All was well" ("Alles war gut"), mit dem Joanne K. Rowling den Helden einer ganzen Generation zuletzt zartfühlig-versöhnlich ins Zauber-Jenseits beförderte.

Wallander, mit dem sich Millionen von Lesern in den Schlaf gegruselt haben, in dem Bewusstsein, dass es im Kleinstädtchen Ystad immer noch ein bisschen düsterer war als im heimischen Bett; Wallander jedenfalls scheidet nicht ohne das nötige Quäntchen Depressivität von uns. Mankell schenkt ihm ein stilles, beinahe umnebeltes Ende. Das Gegenteil eines Showdowns. "Es war, als würde es vollkommen still. Als verschwänden die Farben und ließen ihm etwas in Schwarz und Weiß zurück." So viel Sentimentalität muss erlaubt sein, wenn der Vorhang fällt für einen, der zu einer Art haushaltsübergreifendem Familienmitglied geworden ist. Mit seinen Augen haben wir die Welt betrachtet; er wurde der Kommissar, dem die Deutschen vertrauten.

Gibt es für ihn ein Leben nach den Bestsellerlisten? Vielleicht durch seine Tochter Linda, ihres Zeichens ebenfalls Kommissarin, die Mankell künftig vielleicht an seiner statt ermitteln lässt. Wohl auch im Fernsehen, wo die Mankellmania, der Wallanderwahn sich fortsetzt. Wahrer Trost sieht anders aus. Vielleicht so: Die Geschichte des Schwedenkommissars ist auserzählt, die letzten Fragen sind verhandelt.

"Der Feind im Schatten" ist ein Abschiedsbuch geworden. 600 Seiten ohne Wiederkehr, mehr Tragödie als Krimi. Die Bilanz eines Mannes nach rund 20 Dienstjahren, der die Gegenwart nicht besonders mochte und sich von der Zukunft noch weniger verspricht. Immerhin, er ist nun Großvater, mit den Frauen seines Lebens gab's ein Wiedersehen, kein Happy End. Er ist des Denkens müde und des Mordfällelösens. Man braucht der Zeit, in der Kurt Wallander groß war, nicht hinterherzutrauern. Es hilft aber, wenn man von ihr weiß.