Der Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters beendet seine Ära. Das erste der drei Abschieds-Konzerte starteten den Beethoven-Zyklus furios.

Hamburg. Jenseits des Hörbaren und der persönlichen Geschmacksnuancen gibt es ein sicheres Erkennungszeichen dafür, wie intensiv ein Orchester bis zum Konzert geprobt hat, wie sehr die kollektive Leidensfähigkeit auf die Probe gestellt wurde: die Druckstellen an Geigerhälsen. Dort, wo das Instrument Körperkontakt hat, wo der zu formende Druck des Klangideals auf den Gegendruck des Individuums trifft, um dem Erwartungsdruck des Dirigenten zu entsprechen.

Bei vielen Mitgliedern der Geigengruppen des NDR Sinfonieorchesters waren diese Halspartien gestern Vormittag gut sichtbar leuchtend rot. Das lässt tief blicken, denn der große, schmerzhafte Abschied auf Raten von ihrem Chef, der diese Male verursachte, hat ja gerade erst begonnen. Drei weitere Konzerte folgen in dieser Woche, das nächste schon heute. Die Hälse werden noch einiges aushalten müssen.

Als vorgezogenen Schlussstrich unter seine Amtszeit, die längst die Bezeichnung Ära verdient, hat Christoph von Dohnányi in der bis zum Rand gefüllten Laeiszhalle das erste Drittel seines mit Spannung erwarteten Beethoven-Zyklus vorgestellt. Ein klassisch nobles Abschiedsgeschenk an sich, seine Musiker und sein Hamburger Publikum, das gemeinsame Erfahrungen bündeln und Qualitätsmaßstäbe für den Nachfolger Thomas Hengelbrock setzen soll, der zur Saison 2011/12 den Stab übernimmt - und offenkundig auch ein Orchester in geschliffener Topform in die Hände bekommt.

Für den Einstieg in Beethovens Welt aus Wille und Vorstellung war die Kombination von 1., 2. und 5. Symphonie genau richtig, gab sie Dohnányi doch die Gelegenheit, seine Interpretationsmaxime wie eine Gebrauchsanweisung für die noch kommenden sechs klar zu definieren: Fakten, Fakten, Fakten und immer an die strammen Tempi denken. Augenhöhe statt ergebener Gottesdienst, hinterfragende Begeisterung im dramaturgischen Aufbau statt unkritischer Aneinanderreihung schöner Momente, die durch den Seriencharakter an Glanz verlören.

Das Beethoven-Verständnis des 81-Jährigen ist gereift, aber nicht gut abgehangen, sonor, aber nicht behäbig oder gar altväterlich. Schon in der sich alle Möglichkeiten offen haltenden Eröffnung der Ersten klang mit, dass ihr Interpret wusste, wie viel vom Schöpfer dieses unkonventionellen Debüts noch zu erwarten ist. Die melodische Linienführung war makellos und die Orchesterdisziplin so straff inszeniert wie eine preußische Truppenparade, der Gestus selbstbewusst, ohne dabei großspurig zu wirken. Eine Tür öffnet sich mit großer Selbstverständlichkeit, eine bahnbrechend andere Ästhetik sollte aus sich heraus geschaffen werden. Formverständnis und Überzeugungskraft kamen so auf einen energischen gemeinsamen Nenner.

In der Zweiten ließ diese Freude am Neuen zunächst etwas nach, vielleicht, weil sie im Vergleich zum Vorgänger-Opus einfach deutlich weniger Reibungsflächen und strukturellen Widerstand bietet. Dohnányi bestätigte hier drei kurzweilige Sätze lang vor allem formvollendet, was die Erste angekündigt hatte. Im abschließenden Allegro con brio ging dann aber die Spielfreude im positiven Sinne mit allen durch, Tutti und Dirigent wirkten wie unter Starkstrom gesetzt, präzise rauschte man gemeinsam Schlussakkord und Pause entgegen.

Dirigenten haben etliche Möglichkeiten, den Anfang der Fünften virtuos zu verstolpern - am ehesten klappt es, indem man ihn zu wichtig nimmt und sich schon wie mit einem Stoßseufzer in die rettenden Fermatenkissen des ersten Themas wirft, obwohl die Arbeit erst danach beginnt. Dohnányi ging natürlich nicht auf diesen Leim; er ließ den Dingen ihren Lauf, hielt sich keinen Moment länger als nötig mit den berühmten Klopfzeichen des Schicksals auf, sondern stürmte und drängte mit analytisch klarem Kopf rasant weiter in die Durchführung. Weiter nach vorn, weiter nach oben. Wer beim Anblick heroischer Größe blinzelt, verliert.

Das Andante war eine Übung in Demut vor der Schönheit der Momente, der dritte Satz begann mit dem sicher ausgespielten Bewusstsein, das Vorspiel fürs Finale zu sein, für den Höhenflug aus dem ahnungsvollen c-Moll-Nebel ins strahlende C-Dur mit seinen Pauken und Trompeten. Triumph, Jubel, zunächst auf der Bühne, danach im Saal.

Beim Verlassen des Laeiszhallen-Parketts waren sich eine junge Frau und ihre Großmutter generationenübergreifend einig: Beide hatten im Konzert ständig weinen müssen, so ergriffen seien sie vom Gehörten und Gesehenen gewesen. Blessuren an Geigerhälsen verheilen, solche Momente bleiben.

Nächstes Konzert des Beethoven-Zyklus: heute, 20 Uhr, Laeiszhalle. Symphonien Nr. 4 & 3. Das Konzert wird live von NDR Kultur übertragen.