Hamburg. Leonie hat das seltene Rett-Syndrom. Die Vierjährige kann nicht mit dem HVV unterwegs sein. Der Abendblatt-Verein half der Familie.

Zum verabredeten Gespräch mit Friederike Helms über ihre Lebenssituation als alleinerziehende Mutter eines am Rett-Syndrom erkrankten Kindes kommt es erst mal nicht. „Wir packen gerade für das Krankenhaus, Leonie hat eine Nierenbeckenentzündung“, sagt die 38-Jährige am Telefon. Im Hintergrund beginnt das Kind zu weinen. Wir verschieben unseren Austausch auf dann, wenn es passt.

So funktioniert das Leben von Friederike Helms und ihrer vierjährigen Tochter, auf deren Bedürfnisse alles abgestimmt werden muss.

Rett-Syndrom: Verlangsamte Magen-Darm-Passage

Als es dann nach Wochen doch klappt mit unserem Gespräch, sagt die ausgebildete Sozialpädagogin: „Die letzten drei Monate waren wohl die anstrengendsten meines bisherigen Lebens, weil Leonie eine Krankheit nach der anderen hatte.“ Wochenlang quälten Schmerzen das Kind. Besonders schlimm ist, dass die Vierjährige nicht sagen kann, was sie hat.

„Sie fängt dann plötzlich an, ganz schrill zu schreien“, sagt ihre alleinerziehende Mutter im Podcast „Von Mensch zu Mensch“. Rett-Syndrom-Kinder hätten oft Probleme mit ihrer verlangsamten Magen-Darm-Passage.

Die Krankheit betrifft fast nur Mädchen

Das Rett-Syndrom, eine durch genetische Mutation ausgelöste Entwicklungsstörung, betrifft fast nur Mädchen. Zunächst gesund erscheinende Kleinkinder verlieren im Alter zwischen sechs und 18 Monaten mit der Zeit bereits erworbene motorische Fähigkeiten und soziale Kontaktmöglichkeiten, die Sprache ist betroffen, viele lernen nicht laufen. Sie haben auch Verkrümmungen der Wirbelsäule, Epilepsie und Atmungsprobleme.

Das kleine Mädchen hat bereits den Pflegegrad 3. Den bekommt man laut Sozialgesetzbuch, wenn eine „schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten“ vorliegt. Dabei müssen diese Beeinträchtigungen mindestens für sechs Monate andauern. Vom Rett-Syndrom Betroffene sterben in der Regel früher als gesunde Menschen, Heilung gibt es bisher nicht.

Leonie kann nicht mit Bus&Bahn fahren

In öffentlichen Verkehrsmitteln kann Leonie wegen ihrer autistischen Wahrnehmung nicht fahren, es kommt zu einer Reizüberflutung, die unter anderem Weinen und Schreien auslöst. Friederike Helms war deswegen mit ihrer Tochter jahrelang nur mit einem Buggy im engsten fußläufig erreichbaren Umkreis von Ahrensburg unterwegs. Es gibt dort zwar Spielplätze und Wald, und die Großeltern sowie die Kita sind in der Nähe, doch „wir waren nicht nur wegen der Coronazeit kaum woanders. Wir konnten andere Orte in unserer speziellen Situation nicht erreichen wegen eines Mangels an Mobilität.“

Friederike Helms spricht im Podcast Von Mensch Zu Mensch über ihren Alltag
Friederike Helms spricht im Podcast Von Mensch Zu Mensch über ihren Alltag © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

Helms probierte einiges aus, wie sie mit Leonie am besten mobil vorankommen könnte, wobei vor allem wichtig ist, was das Kind akzeptiert. Sie fand schließlich ein Transportfahrrad, das allerdings von der Krankenkasse weder übernommen noch bezuschusst wird. Ihre Familie legte zusammen und konnte einen Teil der Kosten aufbringen, doch ein Großteil der Summe fehlte noch. Hamburger Abendblatt hilft e. V. übernahm den Restbetrag.

Endlich entspanntere Termine

Das Leben von Mutter und Tochter hat sich nun merklich geändert: „Es ist einfach fantastisch für Leonie und mich, mit dem Transportfahrrad unterwegs zu sein“, sagt Friederike Helms. Zu Hause wolle Leonie nach den Ausflügen gar nicht mehr aussteigen und zeige mit dem Finger nach vorne, was bedeutet, es soll gleich weitergehen. Es gab sogar eine kleine Familienfeier anlässlich des neuen Gefährts.

Viel mehr Termine könnten nun „entspannt“ wahrgenommen werden. „Wir können gemeinsam einkaufen, großartige Ausflüge machen“, schwärmt Friederike Helms. „Wir und die ganze Familie sind sehr, sehr dankbar für die Spende. Auch meine Eltern sind ganz gerührt.“

Rett-Syndrom: Es gibt nur wenige Spezialisten

Da das Rett-Syndrom selten vorkommt, gibt es nur wenige Spezialisten, die Familie Helms im Alltag beraten können, die Kinderärzte überweisen sie regelmäßig gleich ins Krankenhaus. Ihr Lichtblick sei ein sozialpädiatrisches Zentrum in Kassel, wo ein Professor sich seit Jahrzehnten damit befasse. „Er ist der einzige hilfreiche Ansprechpartner. Da dürfen wir einmal im Jahr hinfahren, um die Entwicklung zu besprechen und was wir machen können.“

Geholfen hat ihr auch der dreimonatige Aufenthalt in einer Reha-Klinik in Geesthacht, wo sie andere Familien mit behinderten Kindern kennenlernte. Diese Kinder hatten zwar andere Handicaps, doch auch ähnliche Symptome, daraus ergaben sich Hilfen und Tipps für Leonie.

Die Mutter ist immer abrufbereit, falls die Kleine krank wird

Sie besucht einen Integrationskindergarten, kann laufen, einige Wörter sprechen wie „Mama“ und „haben“ – das sagt Leonie, wenn sie zum Beispiel etwas essen möchte. An guten Tagen kann Friederike Helms vormittags Hausarbeit und Post erledigen, doch sobald Leonie Beschwerden hat, muss sie sofort abgeholt werden. Die Mutter ist also immer abrufbereit, und in diesem Jahr war ihre Tochter monatelang nicht im Kindergarten, und dann ging es eine weitere Woche nicht, weil im Kindergarten Personalmangel herrschte.

Ihre eigene Zukunft kann Friederike Helms nicht planen, obwohl sie gern wieder arbeiten würde, sie war jahrelang im Jugendamt tätig. „Ich kenne keine Rett-Mutter, die voll berufstätig ist“, sagt sie, „die Betreuung ist einfach zu fordernd.“ Sie wünscht sich, dass bei Integration und Inklusion noch viel verbessert wird, denn oft würden Kinder mit Behinderung einfach nur dazugestellt, eine Einzelbetreuung sei meist nicht möglich. „Wenn Leonie morgens in den Kindergarten kommt, ist sie aber darauf angewiesen, dass die Erzieher ihr ,Guten Morgen‘ sagen, da sie das von sich aus nicht kann.“

Sie wünscht sich mehr Angebote für kleine Kinder mit Behinderung

Helms hofft auf genügend externe Hilfe, vom Babysitter über einen familienentlastenden Dienst, was für sie als Alleinerziehende sehr wichtig ist, bis hin zu Angeboten für kleine Kinder mit Behinderung, da es an ihrem Wohnort Ahrensburg so etwas für Leonie nicht gebe. Friederike Helms ist eine engagierte Mutter, sie geht zum Kinderturnen, wo sie jedoch auch auf Ablehnung stieß: „Dort wurden wir angestarrt wie im Zoo, denn Leonie fängt plötzlich an zu quieken und läuft in die andere Richtung.“

Zum Verein Lerntiere in Wentorf geht Friederike Helms mit ihrer Tochter regelmäßig, Leonie liebt dort die Ponys Hunde, Katzen und Hühner. Lerntiere e. V. bietet tiergestützte Pädagogik und Therapie.

Helms: "Sie ist ein ganz lieber Engel"

Helms ist froh über Leonies positive Entwicklung. Es gab eine Phase, in der die Kleine keinen Kontakt mehr mit ihr aufnahm, nur noch stereotype Bewegungen machte. Monatelang war sie nicht ansprechbar. „Als Leonie mich dann morgens wieder anguckte und anlachte, zum Kuscheln kam oder wenn ich sie rief: Das war mein schönstes Erlebnis! Sie hat ganz viel Liebe zu geben, auch gegenüber anderen, sie ist ein ganz, ganz lieber kleiner Engel“, sagt Friederike Helms.

Sie geht auf in ihrer Mutterrolle und möchte ihrer Tochter helfen, „den richtigen Platz auf diesem Planeten zu finden“. Nächstes Projekt der beiden sind regelmäßige Schwimmbadbesuche – natürlich mithilfe des Transportfahrrads vom Abendblatt-Verein.

Der Podcast ist online zu finden.

Information gibt es u. a. beim Verein Rett-Syndrom Elternhilfe – Landesverband Nord. https://www.rett-syndrom-elternhilfe.de