Tagebuch

Teil 11: "Wir brauchen Ärzte, wir brauchen Kinder"

| Lesedauer: 16 Minuten
Jan Melzer ( lalelu ) schreibt ueber seine neuen Nachbarn, die Fluechtlinge; auf der Dachterrasse der HA Redaktion; Thema Seite

Jan Melzer ( lalelu ) schreibt ueber seine neuen Nachbarn, die Fluechtlinge; auf der Dachterrasse der HA Redaktion; Thema Seite

Foto: Andreas Laible

Als er erfuhr, dass in seiner Umgebung ein Flüchtlingsheim gebaut wird, begann Jan Melzer, ein Tagebuch zu schreiben.

Tagebucheintrag 62 – Der kleine Unterschied
Lemsahl ist unser Nachbarstadtteil, und so habe ich mich auf den Weg gemacht, um mir die neue Erstaufnahme am Fiersbarg anzusehen, deren Bezug gerade von einer Bürgerinitiative mithilfe des Anwalts T. aus der Kanzlei K. gestoppt wurde (warum der immer mit vollem Namen genannt werden muss, frag ich mich … Das nenne ich PR!).

Beim Anblick der Anlage konnte ich die Anwohner allerdings verstehen: Immer zwei Container übereinander, alle auf einen Haufen. Also, ich habe mich beim Zeltlager am Ohlstedter Platz wohler gefühlt, sach ich ma …

Vielleicht sollten wir an dieser Stelle einmal die Begriffe „Erstaufnahmelager“ und „Folgeeinrichtung“ klären. Ich habe in Gesprächen nämlich festgestellt, dass viele diesen Unterschied nicht kennen.

Ein Erstaufnahmelager ist eine Sammelstelle für Neuankömmlinge, die versuchen, einen Asylantrag zu stellen. Die Verweildauer sollte nicht mehr als drei Monate betragen (was leider nicht immer gelingt). Erstaufnahmelager funktionieren wie Jugendzeltlager mit zentralem Waschhaus, Essensausgaben und gemeinsamen Schlafplätzen. In letzter Zeit mussten viele sehr kurzfristig eröffnet werden, manchmal in ehemaligen Baumärkten. Hier sind also eine Menge erschöpfte Menschen auf engem Raum, und es kann dadurch zu Aggressionen kommen.

Ein höherrangiger Polizist erzählte mir, dass im Erstaufnahmelager in seinem Bezirk alle drei Monate Streitigkeiten entstehen, was sich aber jedes Mal wieder beruhigt. Bis zur nächsten Neubelegung. Dabei kommt es auch zu den viel beklagten nächtlichen Polizeieinsätzen, was eine große Belastung der Anwohner bedeutet. Und die Schlägereien in den Baumärkten kennen wir ja … Aber: Irgendwo müssen ja auch die Ersteinrichtungen hin!

Eine Folgeeinrichtung wiederum ist etwas ganz anderes. Hier werden richtige abgeschlossene Wohnungen bereitgestellt: Ein bis vier Zimmer mit Bad und Küche. Belegt werden diese Wohnungen mit drei bis sieben Personen (das sollen dann im Durchschnitt fünf sein), möglichst im Familienverband, die ein selbstversorgtes Leben führen sollen. Der Unterschied zur Erstaufnahme: Die Menschen leben nicht mehr so dicht auf einem Haufen, kommen sich nicht andauernd beim Duschen und Essen in die Quere und sind insgesamt entspannter, weil sie bereits seit mindestens drei Monaten die Flucht hinter sich haben und im Idealfall einen anerkannten Asylantrag besitzen.

Wichtig auch: Nach drei Monaten darf ein anerkannter Asylbewerber in Deutschland arbeiten. Laut dem erwähnten Polizisten und Fördern und Wohnen sind aus Folgeeinrichtungen keine größeren Zwischenfälle und nächtliche Polizei-Großeinsätze bekannt. Noch einmal: Es sind keine größeren Zwischenfälle bekannt!

Wir am Poppenbütteler Berg bekommen eine Folgeeinrichtung. Ich hoffe, der Polizist hat recht.


Tagebucheintrag 63 – Nomen est Omen

Ich habe gerade mehrere Folgen von „The Man in the High Castle“ gesehen. Eine amerikanische Serie über eine fiktive Welt, in der die Nazis und die Achsenmacht Japan den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Kein Stimmungsaufheller in diesen Zeiten. Noch vor Kurzem hätte ich mich einmal geschüttelt und dann erleichtert gelächelt: So etwas gibt es genauso wenig wie die Zombies bei „Walking Dead“. Seit die AfD in den Umfragen bei zwölf Prozent liegt, weiß ich allerdings: „Der Schoß ist fruchtbar noch“ (auch so ein Satz, der noch vor Kurzem lächerlich wirkte …).

Ich habe das komische Gefühl, dass es in unserem Volke eine nicht zu unterschätzende Minderheit gibt, die regelrecht dankbar ist für die Ausschreitungen von Köln, dankbar, dass sie endlich ganz locker rechts sein dürfen. Endlich mal die lange unterdrückte Wut gegen all die demokratische Korrektheit rauslassen. Endlich mal entspannt „Lügenpresse“ und „Volksverräterin“ rufen und sich mutig fühlen, wenn man auf die Flüchtlinge an der Grenze schießen lassen will. Und genau das murmeln Stimmen in der AfD.

Und bevor jetzt wieder welche rufen, „die AfD ist keine rechte Partei“: Stimmt, sie wurde so nicht gegründet! Ich glaube Herrn Lucke, dass er das nicht gewollt hat, der alte Zauberlehrling. Was er aber sehr wohl gewollt hat, ist der Name der Partei. „Alternative für Deutschland“ ist die buchstabengewordene Systemfrage. Herr Lucke, was sagt es über einen Menschen, wenn er zu unserer gefestigten Demokratie eine Alternative fordert? Wenn er weder CDU noch SPD, den Grünen, der Linken und auch der FDP eine Lösung zutraut? Geschweige denn der EU und dem Euro …

Wir leben in einem ungeheuer wohlhabenden und friedlichen, freien und fröhlichen Land. Deutschland ist so reich wie noch nie. Die Kriminalitätsrate ist so niedrig wie noch nie. Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie seit 1991 nicht mehr. Die Beschäftigung ist hoch wie nie. Vieles ist gut. Echte Themen wären der Ausgleich zwischen Arm und Reich, die sogenannte Schere – die sich aber im letzten Jahr aber wieder etwas geschlossen haben soll –, und die Überalterung der Gesellschaft und damit die Finanzierung der Rente. Und natürlich ist das Flüchtlingsthema ein großes Problem, das unbedingt gelöst werden muss. Aber deswegen stellt man doch nicht alles infrage!

Leute, bitte macht dieses tolle Land nicht kaputt! Deutschland funktioniert nicht umsonst so gut: Für Information sorgt unsere freie Presse, unsere Justiz und Polizei sorgen für weitestgehende Gerechtigkeit und Sicherheit, und unsere Parteien (ja, auch die!) haben in einem fast 70 Jahre andauernden Wettstreit in immer wieder hart erkämpften Kompromissen oft die beste Politik für uns gefunden. Dabei beobachtet von uns Wählern, die hin und wieder mit neuen Mehrheiten für neue Schwerpunkte gesorgt haben, deswegen finde ich Nichtwähler übrigens etwas gedankenlos (milde gesprochen). Wir sind wohlhabend und geeint durch die CDU, sozial und demokratisch durch die SPD, nachhaltig und tolerant durch die Grünen und ein bisschen freiheitlich durch die alte FDP (Gerhart Baum, Burkhard Hirsch, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger). Und im Zweifel beißt uns die Linke, damit wir so etwas wie den Mindestlohn hinkriegen (auch wenn ich deren SED-Vergangenheit nicht vergessen kann und will!). Zu alldem braucht es eine Alternative? Ich habe natürlich nichts gegen die Gründung einer neuen Partei, nichts ist alternativlos! Eine Partei aber, die ALLES infrage stellt, ist mir nicht geheuer.

Liebe potenzielle AfD-Wähler! Es gibt gewiss berechtigten Protest, den ihr loswerden wollt, das muss in einer Demokratie auch unbedingt passieren. Aber versucht, dies auf unsere gute alte bundesrepublikanische Weise: Demonstriert! Klagt! Macht Volksentscheide! Gründet Bürgerinitiativen! Geht in die „Alt-Parteien“ und diskutiert in den Ortsverbänden. Wenn man sich engagiert, kann man in diesem Land wahnsinnig viel erreichen. Mit diesem Land! Und gerne kann man Alternativen aufzeigen, aber keine „Alternative für Deutschland“. Dieser Name ist saugefährlich!

Tagebucheintrag 64 – Die Lichter der Großstadt

Sonne, leichter Wind, freier Vormittag: Es ist ja mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass ich ein leidenschaftlicher Spaziergänger bin. Heute drehe ich die große Runde, weil ich noch Auftritts-Hemden von der Reinigung holen muss. Geleitet von einer plötzlichen Eingebung schaue ich mir die Häuser in Poppenbüttel an. Der gnadenlos zusammengewürfelte Markt, die Nachkriegsbaracken mit den kleinen Läden und immer mal wieder: Neubauten.

Mir fällt auf: Fast alle sind höher als die Alt-Bebauung. In der neuesten Zeit wird sogar nur noch dreistöckig gebaut – mindestens. Die Zeit der Einfamilienhäuser geht anscheinend zu Ende, in Poppenbüttel findet eine Urbanisierung statt. Langsam, aber sicher kriecht die Großstadt in uns hinein und erinnert uns daran, dass es unsere freiwillige Entscheidung war, in der Millionenstadt Hamburg zu leben und nicht auf dem Dorf.

Ich weiß noch, dass es für mich eine unumstößliche Grundbedingung war, dass unser Auto „HH“ auf dem Kennzeichen hat. Eigentlich hatten wir uns im durchschnittlich fünfstöckigen Barmbek sehr wohlgefühlt. Die Umstände (Kinder, Immobilienmarkt, das schöne Alstertal, die Nähe zu Reitställen) lockten uns dann ins Grüne nach Popptown. Für uns Zugezogene wurde eine drei- bis vierstöckige Siedlung auf dem Gelände einer Baumschule gebaut. Das fanden die Nachbarn so mittel … Für uns Ex-Barmbeker war das noch niedrig, aber die Ur-Poppenbüttler hätten gerne weiter auf die Baumschule geschaut. Wir Stadt-Flüchtlinge haben hier ein Stück Idylle zerstört.

Moment, das kommt mir bekannt vor! Ja, genau wie die geplante neue Flüchtlingssiedlung auf unserem ehemaligen Rapsfeld hat unsere eigene Siedlung den dörflichen Charakter von Poppenbüttel beschädigt und ein Stück Großstadt hergeholt. Mittlerweile passiert das überall in unserem Stadtteil, wir waren quasi nur die Ursünde, und so ergibt sich so etwas wie ein Bild: Hamburg will wachsen, beginnend mit dem Plan der „Wachsenden Stadt“ von Ole von Beust (CDU), den Olaf Scholz nahtlos übernommen und mit seinem 6000-Wohnungen-pro-Jahr-Programm gesteigert hat und der nun rasant fortgeführt wird mit den 5600 „Expressbauten“ innerhalb von ein bis zwei Jahren. Gleichzeitig wird eine bessere Durchmischung der Stadtteile angestrebt, weil sich eine soziale Trennung mit Großsiedlungen wie Steilshoop und Mümmelmannsberg einfach nicht bewährt hat (und ich kann nichts dafür, aber genau in diesem Augenblick läuft „In the Ghetto“ von Elvis im Radio, kein Witz!!).

Kurz: Ich habe den Eindruck, dass der Bezirk Wandsbek eine Art Gentrifizierung nach „unten“ im Alstertal betreibt. Deswegen die Festbauten für die Flüchtlinge! Allein für die Flüchtlingskrise würden ja eigentlich Modulbauten reichen, die man nach fünf Jahren wieder abbaut. Danach könnte der Landwirt wieder Raps anbauen, als wäre nichts geschehen. Dem würden die meisten Poppenbütteler sofort zustimmen! Stattdessen 300 Steinbau-Wohnungen für immer und Streit ohne Ende ...

Nein, ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass mithilfe der Flüchtlinge städtische Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau „geknackt“ werden sollen, weil die Gesetzesänderung vom Oktober dies möglich gemacht hat. Das finde ich ziemlich „hintenrum“ vom Bezirk … Aber vielleicht ist das dennoch gut so. Vielleicht sollten wir Alstertaler Mittelschichtler stolz darauf sein, dass man uns diese Integrationsleistung zutraut, und ganz vielleicht tut uns ein bisschen mehr Dreck in unserem Leben ganz gut. Ein bisschen mehr Rock ’n’ Roll …


Tagebucheintrag 65 – Einwanderungsland

Verwandtenbesuch im Krankenhaus. Auf dem Gang im AK Heidberg kommen mir diverse migrantische Ärzte entgegen. Ein Inder, ein Iraner, dazu zwei afrikanische Pfleger, wenn mich mein erster rassistischer Eindruck nicht täuscht. Es gibt sie also, die eingewanderten Ärzte, die ja nun auch angeblich alle aus Syrien kommen. Wir müssen es uns endlich eingestehen: Wir brauchen Fachkräfte, wir brauchen Kinder, Nachwuchs für unsere Rentenkassen, für unser Bruttosozialprodukt. Darüber mag man lamentieren, aber es ist einfach so: Ohne Einwanderung schaffen wir das nicht.

Deswegen kann ich mich über kaum etwas so aufregen wie über die Weigerung der CDU/CSU, endlich ein anständiges Einwanderungsgesetz zu beschließen. Mit einem Punktesystem, mit bedarfsgerechter Aufnahme. Es muss doch möglich sein, dass ein Tischler aus Aleppo in einer deutschen Botschaft nachfragen kann, ob Deutschland Tischler braucht, um dann nach Prüfung seiner Fähigkeiten mit dem Flugzeug und seiner Familie direkt in die fragliche deutsche Stadt zu fliegen! Und Ärzte und Ingenieure sowieso.

Diese Leute bräuchten dann keine Schleuser, keine Aufnahmelager, keine Reise zu Fuß über die grüne Grenze oder mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer. Wir könnten dann selbst über die Menge bestimmen und die Besten der Besten ermutigen herzukommen, die dann mit höherer Wahrscheinlichkeit über Steuern unseren Einsatz zurückzahlen. Es wäre das Signal an den Ehrgeiz der Menschen: Lerne erst einmal Deutsch und mache eine gute Ausbildung zu Hause. Dann kannst du bequem und gefahrlos zu uns kommen, wenn wir dich brauchen.

Und wer weiß, wenn wir die Leute dazu bringen, sich vor der Einreise gut auszubilden, dann bleibt der eine oder andere sogar zu Hause, weil er dort plötzlich wieder eine Perspektive findet. Ich weiß natürlich, dass das mitten in einem Krieg nicht geht, daher gilt das im Augenblick nicht für die vielen Syrer. Aber all die Menschen, die als Wirtschaftsflüchtlinge keine Chance haben, könnten mit dieser Perspektive aus der unkontrollierten Völkerwanderung herausgenommen werden.

Der Generalsekretär der CDU hatte ja letztes Jahr eine hoffnungsvolle Initiative für ein Einwanderungsgesetz gestartet. Aber die Konservativen in seiner Partei haben auf dem Parteitag durchgesetzt, dass „in dieser Legislaturperiode“ darüber nicht mehr gesprochen wird. Das Paradoxon des Konservativen: Er kommt mit der Völkerwanderung nicht zurecht, will die Grenzen schließen, aber möchte sich auch nicht mit einem für Deutschland vorteilhaften Einwanderungsgesetz beschäftigen, weil darin das Wort „Einwanderung“ vorkommt. So kommen wir nicht weiter, Freunde.

Tagebucheintrag 66 – Religion als Privatsache?
Was muss ich da lesen?! In Rom wurden nackte Statuen in Kisten gepackt, damit die religiösen Gefühle des iranischen Präsidenten nicht verletzt werden?! Geht’s noch? Mein Opa hat am Strand beim Wechseln der Badehose immer gesagt: „Wen’s stört, soll weggucken …!“ Was ist das denn für eine Interpretation der Gastfreundschaft? „Bitte räumt eure Wohnung um, wenn ich zu Besuch komme, ich mag euer Sofa nicht“? Oder andersherum: „Kinder, räumt das Sofa in die Garage, Tante Trude kommt zu Besuch!“? Beides, die Empfindlichkeit des Iraners und den vorauseilenden Gehorsam der Römer, finde ich unerträglich.

Ich als nicht religiöser Mensch verstehe die Irrationalismen von Religion sowieso nicht. Es bleibt mir zum Beispiel ein ewiges Rätsel, wie sich Katholiken und Protestanten darüber streiten können, ob die Oblate beim Abendmahl nun den Leib Christi nur symbolisiert oder tatsächlich ist. Alleine deswegen ist ein gemeinsames Abendmahl nicht möglich. Wegen Esspapiers! Dieser Streit hat allerdings den Vorteil, dass er im Privaten stattfindet beziehungsweise in den Kirchen.

Und dies ist der Moment, mal ein Problem des Islam aufzuzeigen: Einige Muslime tragen ihre Religion in den öffentlichen Raum, ja beeinflussen und ändern ihn sogar. Für mich als Ungläubigen ist „halal“ genauso irrational wie die Oblate der Christen. Wieso um alles in der Welt soll Schweinefleisch unrein sein? Warum müssen viele muslimische Frauen wie Nonnen rumlaufen? Wieso kriege ich in manchen Imbissen kein Bier zum Döner? Warum darf man keine Witze über Mohammed machen, ihn nicht malen, ohne dass Leute Flaggen anzünden …

Ich habe nichts gegen Religionsausübung, aber sie sollte im Privaten stattfinden. Das kriegen die Christen besser hin: Wer radikal seinen Glauben ausleben will, geht ins Kloster. An privaten Christen jedoch kann man höchstens mal ein Kreuz um den Hals sehen oder einen Fisch am Auto. Wobei die mit dem Fisch am Auto schon wieder anstrengend sind, denn die fahren meistens seeeeeehr langsam … (seufz.)

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