Hamburg. Rund 30 Menschen lebten bisher in der alsternahen Wohnung der fitten Seniorin. Das hat ihr und den WG-Bewohnern neue Welten eröffnet.

Eigentlich will sie kein Interview geben, sich nicht aufdrängen. Das hat Gisela in einem Vorgespräch am Telefon gesagt. Dann ist sie doch bereit für ein Treffen. Und hört gar nicht mehr auf zu reden: Franzbrötchen finde sie „zu süß“, obwohl sie eine „Deern“ sei, ein norddeutsches Mädchen. Es folgen Gedanken, Anekdoten. Und weil es nun um Fußball geht, sagt sie: „Sankt Pauli, Sankt Pauli“. Es ist ein Sonnabendmorgen, 10 Uhr erst und Gisela blüht auf an ihrem Küchentisch. Sie trägt die Haare bronzefarben, Rollkragen, Ohrringe und die dunkle Brille auf dem Kopf. Gisela möchte auf keinen Fall wie eine abgehängte alte Frau aussehen.

Seit Jahrzehnten schon vermietet Gisela Räume in der Sechszimmerwohnung

Seit fast 50 Jahren lebt Gisela in dieser Sechszimmerwohnung, nur wenige Schritte entfernt von der Hamburger Alster. Und auch wenn die Lage Ruhe verspricht, ist es nie wirklich still geworden. Mit etwa 30 Menschen hat Gisela hier gewohnt. Mit Praktikanten, Studierenden, Azubis, Flugbegleitern, Ärzten. Mit Jurek, Nils, Antje, die in ganz anderen Lebensphasen steckten als Gisela. Aber was hat sie dazu bewogen, jahrzehntelang? Und was hat das mit ihr gemacht?

Gisela heißt Ploog mit Nachnamen, wird aber lieber geduzt. Im Juli wird sie 82. Das heißt: Jahrgang 1942. Wie Alice Schwarzer, Barbra Streisand, Aretha Franklin. Als ihre Mutter sie zur Welt bringt, plant Hitler gerade die Sommeroffensive auf die Sowjetunion. Gisela wächst ohne Geschwister in Hamburg auf. Ihr Vater arbeitet als Justizangestellter, ihre Mutter regelt den Haushalt. Nach der Mittleren Reife bricht sie eine Lehre zur Kauffrau ab. Sie verliebt sich, heiratet, wird Mutter eines Sohnes. Die Ehe scheitert.

Ihr Partner starb mit 45 Jahren an einem Gehirn-Aneurysma

Gisela trennt sich – und verliebt sich neu: in einen Anwalt, der sein Essen schon mit Sahne und Wein abschmeckte, da kochte Gisela vor allem Eintöpfe. 1976 zieht Gisela mit ihrem Sohn zu ihm in die große Wohnung an der Alster, die vorher seine WG war. Die beiden reisen viel, nach Mexiko, Bali, Indonesien, Haiti, Singapur. Glücklich war sie, sagt Gisela, eine Zeit lang. Dann zieht ihr Sohn fürs Studium aus. Zwei Jahre später stirbt ihr Partner, ein Gehirn-Aneurysma, er war erst 45.

Gisela muss ihr Leben neu navigieren. Sie arbeitet als Artdirektorin in Werbeagenturen, lebt ein halbes Jahr allein auf der ersten Etage. Doch die 192 Quadratmeter sind für sie zu groß, zu teuer auch. Sie überlegt: Soll ich ausziehen? Oder soll ich jemand Fremdes einziehen lassen? Also mein Badezimmer teilen, immer?

Seit 1988 vermietet sie, nachdem ihr Sohn ausgezogen ist

Inzwischen leben in jeder größeren deutschen Stadt Rentner und Studenten zusammen, Jung und Alt, in einem Landhaus oder in einer Wohnung, oft, weil sie es müssen. Mehrgenerationen-WG sagt man dazu. Dahinter steckt die Idee, dass ältere Menschen günstigen Wohnraum bereitstellen, und im Gegenzug Hilfe erhalten im Haushalt oder bei Technikfragen.

Als Gisela 1988 beschließt, das 32 Quadratmeter große Zimmer ihres Sohnes unterzuvermieten, gibt es all diese Projekte noch nicht. Sie wünscht sich niemanden, der ihr im Garten helfen kann und bei den Einkäufen. Sie stellt auch keine Regeln auf. Gisela, das kann man so sagen, ist eine WG-Revoluzzerin. Über einen Aufruf in einem Anzeigenblatt findet sie Jurek, ein Zivi, wenig später gesellt sich Nils dazu, der Medizin studiert. Gisela vertraut ihnen, sie selbst arbeitet oft bis spätabends. Am Anfang lässt sie sich noch Frau Ploog nennen. Sie stellt Zimmer, Küche, Bad. Für ein Zimmer verlangt sie 400 Mark, heute 620 Euro. Oft ziehen Leute ein, die sie nur am Telefon kennengelernt hat.

Es gab auch Mieterinnen, die schräge Ansichten hatten

Gisela hat auch schmerzhafte Lektionen gelernt: Sie erinnert sich an eine Mieterin, die überzeugt war, dass Gisela „eine Spionin“ sei und sie verfolge. Ein anderer habe regelmäßig Leute auf der Straße angesprochen und deren Körper bemalt – in der Wohnung. Gisela sagt: „In solchen Fällen habe ich das Gespräch gesucht oder einen Brief geschrieben. Und dann die Sache aufgelöst.“

Ihre älteste Mitbewohnerin ist 57, fast alle anderen junge Erwachsene. Die meisten leben nur kurz in ihrer Welt und reisen dann weiter. Nicht so Antje Fasshauer. 2009 wohnte sie zunächst für die Dauer ihres dreimonatigen Praktikums bei Gisela. Mit Ende 20 kam die Journalistin beruflich zurück nach Hamburg und zog wieder ein. Sie blieb immer länger, insgesamt fünf Jahre, so lange wie sonst niemand. Warum? „Gisela war mein Stück Zuhause in der großen Stadt“, erinnert sich Antje am Telefon, eine Frau mit lockigen, roten Haaren, 39 inzwischen. Gisela habe sich die Neugier eines Kindes bewahrt, sagt Antje. Das gefiel ihr. Trotzdem waren die Lebensphasen und Interessen der beiden verschieden: Antje ging gern tanzen und zu Konzerten, Giselas Zeiten im Hamburger Nachtleben lagen länger zurück. Antje hört Indie-Rock, Gisela mag Soul und Klassik. Sie hatten auch getrennte Kühlschränke, Gisela in der Küche, Antje in der Speisekammer. Gekracht habe es nie, sagt Antje, weil Gisela nicht belehrend gewesen sei und nicht verlangt habe, die eigene Lebensweise zu ändern.

Ehemalige Mitbewohner kommen gern vorbei, viele vertrauen Gisela ihre Probleme an

Gisela hält zu vielen ehemaligen Mitbewohnern Kontakt. Diese kommen vorbei, wenn sie in der Stadt sind, bringen Kuchen mit und reden. Hannah, Bao, Renate. Berichten von ihren neuen Jobs, von Trennungen. Fragen, wie es Gisela geht. Viele ihrer Freundschaften hat Gisela spät geschlossen, als Erwachsene. Freundschaften, sagt Gisela, seien kein Selbstläufer, sie ergeben sich im Alter nicht so leicht wie bei anderen in der Schule oder in der Nachbarschaft. Sie habe oft Pizza bestellt, dazu teilten sie sich auch mal eine Flasche Rotwein. Aber Pizza und Wein allein genügten nicht, damit aus Fremden Bekannte, vielleicht sogar Freunde werden. Man müsse sich Vertrauen immer neu erarbeiten, sagt Gisela. Und: durch Tiefen gehen. Die meisten Dramen spielten sich an ihrem Küchentisch ab. Gisela sagt, hier hätten Eltern gesessen, in Tränen aufgelöst, und nach Rat gefragt für ihre Beziehung oder den richtigen Umgang mit ihren Kindern. Hier habe ihr ein Mitbewohner erzählt, dass er schwul sei – lange, bevor er es seinen Eltern sagte.

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Gisela nimmt sich vor, nicht alles über ihre Mitbewohner zu verraten, sie würdig zu vertreten, ja, für sie zu bürgen. Sie hat Geheimnisse zu hüten. Vermutlich werden ihre Freundschaften von diesen Geheimnissen aufrecht gehalten. Und noch etwas fällt auf: Gisela hört aufmerksam zu. Immer wieder unterbricht sie unser Gespräch, fragt nach und sagt, wenn sie anders denkt. Nur einen Satz hört man von ihr nicht: Dass dieses oder jenes früher besser war.

Gisela Ploog hat schwere Zeiten erlebt, ihr Sohn starb mit 56 Jahren an Multiple Sklerose

Dabei hat sie eine schwere Zeit erlebt. Ihr Sohn starb 2020 mit 56 Jahren, er hatte Multiple Sklerose. „Das eigene Kind zu verlieren, schmerzt unerklärlich“, sagt Gisela, „und ich kann gut verstehen, wenn Eltern damit nicht fertig werden.“ Die Trauer zu bewältigen, sich im Alter auf unsichere Realitäten einzustellen und einen akzeptablen Lebensstandard zu wahren – das ist die Aufgabe von Gisela, wie auch vielen anderen ihrer Generation. In Deutschland werden von den etwa 40 Millionen deutschen Haushalten rund 16 Millionen laut Umweltbundesamt von Singles bewohnt. Fast die Hälfte aller Frauen ab 65 lebt hierzulande allein (Quelle: Destatis). Wenn das Arbeitsumfeld wegfällt, die Kinder aus dem Haus sind und es keinen Partner (mehr) gibt, zieht bei vielen ein Gefühl der Isolation ein.

Gisela sagt, sie sei zwar alt, aber nicht einsam. Sie gehe nicht zum Bingo oder zum Seniorentreff. Sie spiele im Sommer Tennis und schleppe sich im Winter zum Bauch-Beine-Po-Kurs. Schmerzmittel nehme sie keine, und auch sonst keine Tabletten. Wenn alles zu viel werde, und das sei dann doch manchmal der Fall, setze sie sich aufs Rad und fahre an die Elbe. Und sie verbringe viel Zeit mit Lesen. John Irving hat es ihr angetan. „Der schreibt Märchen für Erwachsene“, sagt Gisela. Fahrrad fahren, lesen, Freunde treffen: Das ist ihr persönliches Gegengift gegen schlechte Laune. Gisela sagt, sie sei glücklich, lange schon.

Sie schreibt gezielt die potenziellen Kandidaten an, die offen für jedes Alter sind

Gisela ist nie weggezogen – trotz all der Dinge, die sie an ihren Sohn und ihren Partner erinnern. Oder gerade deshalb. Inzwischen sucht sie ihre Mitbewohner online aus, schreibt gezielt jene an, die für jedes Alter offen sind. Bevor jemand Neues einzieht, gönnt sie sich ein paar Monate Pause. „Dann werde ich so richtig schlampig und räume das Geschirr erst Tage später weg.“ Ihre Freunde bewundern, dass sie noch immer Menschen bei sich wohnen lässt; manche mahnen, tritt doch mal kürzer. Aber Gisela denkt nicht daran. Ihr Weg hat sie in andere Kreise katapultiert. Ihr Blick in die Welt hat sich durch die Gespräche am Küchentisch gefärbt, daraus zieht sie ihre Schlüsse. Sie will dranbleiben, am Leben und an den jungen Leuten. Am 1. April wird eine Pharmazie-Studentin bei ihr einziehen. Gisela hat sie noch nie gesehen.