In Farmsen-Berne unterrichtet man schon nach Reformprinzipien. Schüler lernen in fünfter und sechster Klasse gemeinsam.

Hamburg. Wenn Hamburgs Schüler heute ihre Zeugnisse in Empfang nehmen, kommt nicht überall Freude auf. Das war schon immer so. Neu für manches Kind jedoch ist eine ganz andere Art der Bewertung: individueller, ausführlicher, ungewöhnlicher. So wie an der Erich Kästner Gesamtschule (EKS) in Farmsen-Berne, wo die Schüler in der fünften und sechsten Klasse gemeinsam lernen, bevor es in unterschiedliche Richtungen geht. Dabei fließen auch Logbuchführung, Umgang mit Arbeitszeit und Arbeitsplänen oder Sozialverhalten sowie Zusammenarbeit mit anderen und respektvolles Verhalten in die Beurteilung ein. Getreu einer Vereinbarung, die Kinder, Eltern und Schule gemeinsam geschlossen haben. Das Abendblatt besuchte zwei Tage lang die Klasse 6 d. 24 Schüler zwischen elf und 13 Jahren, sowie zwei Tutorinnen.

Präsidentin Marla eröffnet die Sitzung des Klassenrats

10.20 Uhr, der erste Unterricht ist vorbei. 24 Kinder und die beiden Lehrerinnen Ingrid Grohmann und Cosima Teuffer, sitzen im Kreis. Marla fungiert als Präsidentin, einer führt das Protokoll, ein anderer die Rednerliste. Relative Ruhe herrscht. Ein bisschen liegt das auch an der Lärmampel, die bei hoher Lautstärke auf Gelb und bei Krach auf Rot schaltet, mehr jedoch noch an den Regularien des Gesprächs. Wer einen Finger hebt, möchte etwas sagen. Zwei Finger bedeuten: Ich habe eine Frage. Scheint zu funktionieren.

Einige haben ihre Dienste nicht korrekt ausgeführt, so die erste Kritik. 24 dieser Pflichten wurden gewählt oder verteilt, an jeden eine. Winnie ist Dienstplanwächter, Tomek managt den Energiedienst, Valentin, die Klassenratsvorbereitung, Arsu sammelt Themen für den Morgenkreis. Weitere Meckerpunkte der Sechstklässler: teilweise werden Verabredungen nicht eingehalten. Die Sitzordnung ebenfalls nicht. Und manchmal wird einfach dazwischen gequatscht, ohne auf die Handsignale zu achten. Dazu zählt das Leisezeichen: Hand hoch, Finger auf den Mund halten. Hilft nicht immer. Die beiden Lehrerinnen halten sich bewusst zurück, greifen aber schnell massiv ein, als das Tohuwabohu zu groß wird. Mit antiautoritärer Erziehung, so die erste Erfahrung, hat Primarschule also nichts zu tun.

Ingrid Grohmann, 58, hat viele Jahre Erfahrung mit offenem Unterricht. Ihr Zwischenfazit: "Alle haben mehr Chancen und lernen individuell besser." Pluspunkte aus ihrer Sicht seien mehr Eigenverantwortung, Umsetzung eigener Ziele sowie, ganz entscheidend, mehr Selbstbewusstsein. "Diese Art von Unterricht macht die Kinder taffer für das spätere Leben." Die Zeugnisse verfasste sie nach Einzelgesprächen sowie einer Selbsteinschätzung der Schüler.

+++ Projekt Primarschule: Drei Stühle, eine Meinung +++

Jasmin und ihr persönliches Logbuch

In der Pause zeigt Klassensprecherin Jasmin ihr Logbuch. So wird die DIN-A4-große und gut hundertseitige Kladde bezeichnet, die jedes Kind durch das Schuljahr begleitet. Sie soll helfen, das Lernen zu planen und Verantwortung zu übernehmen. Wer das Logbuch mehrfach nicht bei sich hat, kriegt Ärger. Neben dem Stundenplan, Regeln ("Langsam und leise - freundlich und friedlich") und einer Rubrik für persönliche Projekte enthält es je zwei Blätter pro Woche. "Darauf trägt jeder seine Planung und Umsetzung für jeden Tag ein", erläutert Jasmin. Hinzu kommen Projektaufgaben, Ziele der Lernzeit, Aufgaben für zu Hause. Zudem kann und muss die Schülerin selbst einschätzen, wie sie ihre Vorhaben umsetzt. Der Wochenrückblick wird von den Tutorinnen bewertet und mit Kommentaren ergänzt. Bis Wochenbeginn müssen die Erziehungsberechtigten es abzeichnen. "So sind meine Eltern immer auf dem Laufenden", weiß Jasmin, "und es gibt kein plötzliches böses Erwachen."

Björn und die Sonne für Spezialisten

Neben Jasmin wurde auch Björn zum Klassensprecher gewählt. Der aufgeweckte Buttje aus der Wandsbeker Gartenstadt hat eine fünf Jahre ältere Schwester auf der Schule. Somit lag die Wahl nahe. Björn zeigt seine persönlichen Arbeitspläne für verschiedene Fächer: Was er wann und wie schaffen soll. Sie dienen der Selbsteinschätzung und der Ergebniskontrolle. Mit einem Stern gekennzeichnete Aufgaben sind Pflicht, ein Mond bedeutet ein "freiwilliges Soll". Und wo eine Sonne steht, sagt Björn, "sind Spezialisten gefragt." Auf diese Weise kann jeder sein Pensum dosieren. "Diese Aufteilung macht Spaß, weil ich selbst bestimmen kann, was ich mir zutraue", ergänzt er. Einziger Haken: "Macht viel Arbeit."

Wie offensichtlich so Manches hier an der Reformschule. Zwar machen die Logbücher und Arbeitspläne auf den ersten Blick Sinn, doch ist das Ausfüllen, Kontrollieren und Bewerten mit einer Menge Aufwand verbunden. Ganz besonders für die Lehrkräfte. "Ohne außerordentliches Engagement und Idealismus geht gar nichts", meint Cosima Teuffer, 29, die zweite Tutorin der Klasse 6d. Genau deswegen jedoch habe sie sich diese Schule ausgesucht. "Mit den neuen Methoden haben unsere Kinder die Chance, persönlich zu wachsen und das Beste aus sich herauszuholen." Referate und Präsentationen vor der Klasse zählten schon in der fünften und sechsten Klasse zur viel geübten Praxis.

Lehrer meist an der Tafel? Das war einmal!

Die am nächsten Vormittag für 10.45 Uhr angesetzte Lernzeit wirkt auf Absolventen des konventionellen Schulsystems erstaunlich. Niemand steht an der Tafel und doziert, sondern jeder lernt, was er will. "Ich muss gar nichts mehr von der Tafel abschreiben", wundert sich die jüngst aus Schleswig-Holstein zugezogene Marla.

Marla hat sich heute für Mathe entschieden, Jasmin übt Englisch, Björn sitzt über seinen Deutschaufgaben. Für jedes dieser Fächer erhalten die Kinder für einen verabredeten Zeitraum den bereits erwähnten Arbeitsplan. Im individuellen Arbeitstempo werden unterschiedliche, dem jeweiligen Könnensstand entsprechende Aufgaben bearbeitet. Je nach Wahl können die Schüler in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit lernen. "In der Lernzeit steht der Lehrer nicht mehr für die ganze Gruppe erklärend an der Tafel", erläutert Giese. "Er muss die Schüler individuell beraten und Hilfe im Einzelfall leisten." Zusätzliches Ziel sei es, dass stärkere ihre schwächeren Mitschüler unterstützen. Letztlich, so seine Erfahrung, gleiche sich das oft aus.


Lea will an ihrer Schule Streitschlichterin werden

Lea beeilt sich; denn am Nachmittag hat sie Besonderes vor. Sie hat sich gemeinsam mit Marla als "Streitschlichterin" beworben und belegt jetzt einen entsprechenden Kurs, der mit einer mündlichen und schriftlichen Prüfung abgeschlossen werden muss. "Ich freue mich, anderen helfen zu können", sagt Lea in der Pause. Sie helfe gerne anderen und könne sich gut in die jeweiligen Interessen anderer Streithähne versetzen. "Schlichten ist besser als Schimpfen", findet sie. Vom kommenden Schuljahr an will sie im Bund mit je zwei Schülern aus jeder Klasse dazu beitragen, anderen auf die Sprünge zu helfen und Lösungswege zu finden. Ohnehin bereite ihr der Unterricht Tag für Tag Freude: "Weil es Spaß macht, selbst auszusuchen, was ich lernen mag."

Allein die freiwilligen Nachmittagsangebote füllen 42 Seiten

Während sich Jennifer und Leonie im Team um das Hamburger Rathaus kümmern und online sowie in Büchern Fakten sammeln, bereiten sich andere Kinder auf ihre Projekte am Nachmittag vor. Rund neun Unterrichtsstunden pro Woche sind für diese fachübergreifenden Aufgaben vorgesehen. Eine 42-seitige Broschüre beinhaltet ein Füllhorn unterschiedlichster Möglichkeiten für freiwillige Nachmittagsangebote- von Webdesign, einer Fahrradwerkstatt, Rap oder Gitarrespiel bis zur Redaktion einer Schülerzeitung, einem Leseclub, Sport oder Wissenswertem über die Vogelspinne. Um viel zu erleben, ist jedes Schuljahr in sechs Projektzeiten unterteilt. Am Ende, also auch in diesen Tagen, gibt es Präsentationen vor der Klasse aber auch in großer Gruppe in Anwesenheit der Eltern.

Im August beginnt auch an der Gesamtschule das neue Unterrichtsjahr. Mit sechs fünften Klassen. Rund 135 Kinder können aufgenommen werden. Weit über 200 Anmeldungen liegen vor.