Der mutmaßliche Kindermörder betreute Arbeitslose, hatte für sie offenbar das richtige Gespür. In Bremen hatte er ein Pflegekind.

Hamburg. Als die Beamten in Zivil Rainer Westerwelle den Durchsuchungsbeschluss am Mittwoch vor zwei Wochen vorlegten, wusste er sofort, dass es sich hier um einen Fall von großer Tragweite handelte. Soko "Dennis" war auf dem amtlichen Dokument zu lesen. Mit diesem wollten die Kripo-Leute den Arbeitsplatz von Martin N., dem mutmaßlichen Kindermörder, nach Beweisen durchsuchen. Westerwelle, Geschäftsführer des Schulungszentrums für Arbeitslose des TÜV Nord am Ruwoldtweg in Steilshoop, sah sich plötzlich als Teil einer der größten Kriminalfälle der vergangenen Jahre.

Die Verbrechen des bis dahin als "Maskenmann" bezeichneten Unbekannten waren Westerwelle geläufig. Und nun musste er erkennen, dass er diesen Mann eingestellt hatte. Gleichzeitig hatte er die Sorge, dass das Schulungszentrum, welches Arbeitslose fit für den Arbeitsmarkt machen soll, in den Schlagzeilen gleich neben dem Wort "Monster" auftauchen könnte. "Das alles ist nicht angenehm", sagt Westerwelle.

Martin N. war dort seit Januar 2010 als Sozialpädagoge beschäftigt, bekam einen auf ein Jahr und neun Monate befristeten Arbeitsvertrag. Der 40-Jährige fertigte Profile der Neuankömmlinge an. Er musste herausfinden, welche Stärken und Schwächen sie hatten. Anschließend übten die Arbeitslosen im Supermarkt, im Lager oder in der Kfz-Lackiererei modellhaft, wie ein Arbeitsalltag aussieht.

Martin N. hatte offenbar das richtige Gespür für die Teilnehmer. Viele von ihnen waren seit mehreren Jahren arbeitslos und schwer vermittelbar. Er erkannte ihre Talente. "Sollte ich ihm ein Zeugnis ausstellen, würde ich ihn als konzentriert und sorgfältig beschreiben. Er hatte eine hohe Einsatzbereitschaft", sagt sein ehemaliger Chef Rainer Westerwelle. "Er hat die Leute in die Jobs gebracht." Er habe gute Arbeit geleistet. Teilnehmer hätten ihn positiv beurteilt. "Ich würde ihm die Schulnote "Zwei" geben. Ohne Einschränkungen."

Dass es sich bei Martin N. um einen Mann handelt, der den Mord an drei Jungen zugegeben hat und dem zwei weitere angelastet werden und der den Missbrauch an etwa 40 Kindern gestand, das habe ihm niemand zugetraut, sagt Westerwelle. Immer wieder gleichen sich die Beschreibungen derer, die Martin N. kannten. "Unauffällig", ein Wort, das ebenfalls bei seinen Nachbarn und Arbeitskollegen genannt wird. So habe Martin K. zu Letzteren keinen privaten Kontakt gepflegt.

Erleichtert nahm Rainer Westerwelle zur Kenntnis, dass die Kripo auf dem Arbeitscomputer von Martin N. keine Dateien gefunden hat, die in Verbindung zum Missbrauch von Kindern stehen. Auch konnte der 40-Jährige im Schulungszentrum keinen Kontakt zu potenziellen Opfern aufnehmen. Die jüngsten Teilnehmer sind 18 Jahre alt. Immerhin scheint es zwischen dem Schulungszentrum und den Taten keinen Zusammenhang zu geben.

"Wir waren Teil seines zweiten Lebens", sagt Westerwelle. Das unauffällige zweite Leben, mit dem Martin N. sein erstes fast 20 Jahre zu tarnen verstand. Das erste Leben, damit meint Westerwelle die gestandenen Morde an dem 13 Jahre alten Stefan J. im Jahr 1992, dem achtjährigen Dennis R. 1995 und dem neun Jahre alten Dennis K. 2001, der der Sonderkommission schließlich ihren Namen gab.

Unterdessen ist bekannt geworden, dass Martin N. 1996, also nach den ersten beiden Morden, einen zwölf Jahre alten Jungen in Pflege genommen haben soll. Wie der "Weser-Kurier" berichtet, habe N. den Jungen vier Jahre im Auftrag des Bremer Jugendamts betreut. Die Behörde bestätigte dies. Der inzwischen erwachsene junge Mann soll bereits von der Soko "Dennis" vernommen worden sein. Ob er ebenfalls missbraucht wurde, ist bislang nicht bekannt. Die Soko gibt derzeit keine Auskünfte dazu. Sie beruft sich auf laufende Ermittlungen, die nicht gefährdet werden dürften. Außerdem kümmerte sich Martin N. im Sommer 1996 drei Monate lang um ein der Behörde unbekanntes Kind im Rahmen einer sogenannten außerschulischen Betreuung. Mehr sei aus den Akten nicht hervorgegangen, hieß es.

Während heute laut einer Behördensprecherin ein einwandfreies erweitertes Führungszeugnis vorgewiesen werden müsse, sei dies zum damaligen Zeitpunkt freiwillig gewesen. Allerdings hätte ein Blick in das Führungszeugnis nichts genützt. Die Verurteilung von Martin N. wegen einer Erpressung als 16-Jähriger wäre wegen Verjährung nicht mehr aufgeführt gewesen.