Gerda Kappler war neun Monate alt, als beim Hamburger Feuersturm giftige Gase und Hitze von Brandbomben den Luftschutzkeller trafen. Sie überlebte nur, weil ihr toter Vater auf ihr lag. Alexander Schuller schildert dieses und andere Schicksale von Hamburgern, die den verheerenden Luftschlägen von 1943 ausgeliefert waren

Der Blick schweift über eine Weide, sattes Grün, zwei Pferde grasen unter blauem Himmel. Sommer liegt über dieser ländlichen Idylle bei Pinneberg, Gerda Kappler, geborene Thomas, kann ihre Terrasse genießen. Sie ist 70 Jahre alt, mit ihrem Mann wohnt sie gern hier draußen. Sie hat Apfelkuchen gebacken, denn ihre Schwester Lieselotte Hennings ist zu Besuch. Die ist sieben Jahre älter, wohnt heute in den Hamburger Walddörfern – und für sie ist es bis heute ein Wunder, dass ihre Schwester noch lebt.

Vor 70 Jahren war Lieselotte, ein häufig kränkelndes Kind, wenige Tage vor der Operation „Gomorrha“ mit ihrer Mutter Carla in den Schwarzwald gereist, der guten Luft wegen. „Lasst es euch dort gut gehen“, hatte ihr Vater Fritz beim Abschied gesagt. Der Marineoffizier und Maschinenbauingenieur war 1942 als „u.k“, als „unabkömmlich“, zurückgestellt worden, die Familie war heilfroh, dass er so dem Schlamassel an der Front entronnen war. Die neun Monate alte Gerda sollte beim Vater und den Großeltern in Hamburg bleiben. Man war allgemein der Ansicht, Babys seien zu klein zum Reisen.

Lieselotte und Carla Thomas wurden daher verschont, als in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 „Feuer vom Himmel fiel“, das „ihren“ Stadtteil Hammerbrook auslöschte – und der Vater und ihre Großmutter starben und mit ihnen mindestens 35.000 Menschen, vielleicht auch 40.000.

Was damals im überfüllten Luftschutzkeller unter dem Haus Süderstraße 277 geschah, lässt sich minutiös durch Erzählungen, Briefe und das Tagebuch der Mutter rekonstruieren. Doch kaum dass in Lieselotte Hennings die Erinnerungen hochsteigen, versagt ihre Stimme. Tränen glitzern in ihren Augenwinkeln. Der Blick zurück fällt auf einen Moment, der zwar schon 70 Jahre zurückliegt, für den sie jedoch noch immer keine Worte findet.

„Im Hinterhaus befand sich eine kleine Lack- und Farbenfabrik“, nimmt Gerda Kappler den Faden ihrer Schwester auf, die den Vater ja noch bewusst miterlebt hatte. „Er war mit mir und meinen Großeltern nach dem Alarm sofort hinunter in den Keller, mich hatte er unter seine Jacke gesteckt. Wir saßen ganz hinten in einer Ecke.“

Die Bombenstrategen lernten von der Feuerwehr, wie man Brände entfacht

Schon mit der ersten Angriffswelle wurde die kleine Lack- und Farbenfabrik im Hinterhaus durch eine Luftmine pulverisiert, dann regneten Sprengbomben und ein dichter Schauer von vier Pfund schweren Brandbomben hinunter, die nach dem Aufschlag ungefähr acht Minuten lang mit weißer Flamme loderten. In dieser Zeit musste ein solcher Brandsatz unbedingt etwas Entzündliches in seiner Nähe finden, damit die Wirkung nicht verpuffte: Das Brandgut waren die Gebäude der Stadt. Während sich die amerikanische Luftwaffe, die USAAF, bei ihren anfangs sehr verlustreichen Tagesangriffen auf militärische und kriegswichtige Ziele wie Hafen- und Industrieanlagen konzentrierte, war die britische Strategie auf nächtliche Brandstiftung ausgerichtet. Diese „Area Bombing Directive“, die „Anweisung zum Flächenbombardement“, war am 14. Februar 1942 an die Royal Air Force (RAF) ergangen, und der britische Luftwaffen-Stabschef Sir Charles Portal hatte klargestellt: „Es muss dabei ganz deutlich gemacht werden, dass die Zielpunkte Siedlungsgebiete sein sollen und nicht Werften oder Luftfahrtindustrien.“

Das „Bombing Command“ hatte zunächst die Zerstörung Coventrys am 14. November 1940 durch die deutsche Luftwaffe genau analysiert. Damals waren 62 Prozent der Innenstadt verbrannt. Nun gewann es mit jedem neuen Großangriff auf Lübeck, Rostock, Köln sowie die großen Industriestädte des Ruhrgebiets weitere Erkenntnisse über die effektivste Vernichtungsstrategie. Spätestens mit dem verheerenden Luftangriff auf Wuppertal vom 29. auf den 30. Mai 1943, der die Zahl der zivilen Todesopfer binnen einer einzigen Nacht erstmals auf mehrere Tausend ansteigen ließ, hatte die RAF das komplizierte Zusammenspiel aus Bombenmix und sekundengenauen Zeitfenstern perfektioniert. Der entscheidende Tipp war von Feuerwehrleuten gekommen: Flammen benötigten schließlich Sauerstoff, je mehr davon, desto heißer, größer und wütender würde das Feuer werden. Und was in einem englischen Kamin möglich war, konnte auch in mehrstöckigen deutschen Wohnhäusern funktionieren, gerade wenn die Bebauung dicht war. Zuerst wurden daher Luftminen abgeworfen, die bis zu vier Tonnen Sprengstoff enthielten. Deren Druckwellen konnten in einem Umkreis von mehreren Hundert Metern Hausdächer abdecken, Türen und Fenster aus den Fassaden herausblasen, aber sie konnten bei Volltreffern auch Menschen umbringen, die in Luftschutzkellern oder gar in Tiefbunkern saßen – die Todesursache war dann zumeist ein Lungenriss. Mit den nächsten Angriffswellen folgte ein dichter Teppich aus Brandbomben, dann sollten Sprengbomben möglichst viele Straßen in unpassierbare Kraterlandschaften verwandeln, Versorgungsleitungen zerstören und die aufflammenden Brände weiter anfachen. Viele der Sprengbomben besaßen unterschiedlich eingestellte Zeitzünder, um die Bevölkerung an der Brandbekämpfung zu hindern.

Die Brandbomben fanden in der zerstörten Lack- und Farbenfabrik in der Süderstraße reichlich Nahrung. Binnen Sekunden verwandelte sich das Areal in einen Feuerball aus explodierenden Lacken, Farben, Ölen und Lösungsmitteln, binnen Minuten brannte der gesamte Häuserblock. Hitze und giftige Gase drangen in den Luftschutzkeller, der Sauerstoff wurde knapp. „Mein Vater hatte plötzlich nur noch den Gedanken: ,Raus, raus!‘“, erzählt Gerda Kappler, „mein Großvater sah ihn ernst an und sagte: ,Du musst tun, was du tun musst.‘ Er selbst wollte bleiben. Meine Großmutter eilte im selben Moment einer Frau im vorderen Teil des Kellers zu Hilfe. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und schrie hysterisch.“

Zwei Menschen, zwei Entscheidungen über Leben und Tod, in Sekundenbruchteilen gefällt: Fritz Thomas schaffte es nicht zur vermeintlich rettenden Tür. Er sackte auf der Kellertreppe zusammen und erstickte, so wie auch seine Schwiegermutter und die anderen, die im vorderen Teil des Kellers gehockt hatten. Dabei begrub er seine kleine Tochter unter sich. Nur dem Großvater glückte es später mit einigen anderen, irgendwie aus dem tödlichen Gedränge durch einen Wanddurchbruch in den Keller eines Nebenhauses zu kriechen und zu überleben. „Er hatte einfach keine Möglichkeit, etwas zu tun“, sagt Gerda Kappler, die ihr Leben einem aufmerksamen Luftschutzwart verdankt. Der öffnete Stunden nach dem Angriff – selbst auf der Suche nach seiner Frau und seinen Kindern – die Tür zum Luftschutzkeller und blickte schaudernd auf die vielen Leichen. Plötzlich hörte er ein Wimmern. Einen Moment später zog er die neun Monate alte Gerda unter dem toten Vater hervor. Da er davon ausgehen musste, dass sich die Eltern eines solch kleinen Kindes ebenfalls unter den Toten befanden, drückte er das Baby einem zufällig vorbeikommenden Soldaten in die Arme, der es wiederum an einer Sammelstelle für Verletzte in der Nähe des Hauptbahnhofs abgab. Dort verlor sich zunächst die Spur von Gerda Kappler ...

Im streng geheimen Angriffsbefehl 173 hieß es kurz und knapp: „Absicht: Hamburg zu zerstören.“ Als Codenamen für den Angriff entschied man sich nach einem Blick ins Alte Testament für Operation „Gomorrha.“ Im Ersten Buch Mose, 19, 24 heißt es: „Der Herr ließ Schwefel und Feuer regnen auf Sodom und Gomorrha und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner.“ Aufgrund der extrem heißen und windigen Juli-Nacht sollte dieses Vorhaben gelingen wie niemals zuvor in der Kriegsgeschichte, ohne Rücksicht auf menschliches Leben, ohne Gnade.

Hinzu kam der erstmalige Einsatz von „Düppeln“, kleinen Aluminiumstreifen, die exakt auf die Wellenlänge des deutschen Abwehrradars zugeschnitten waren. Bei der Ouvertüre zur Operation Gomorrha in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 warf die RAF beim Anflug über der Deutschen Bucht erstmals rund 40 Tonnen (rund 90 Millionen) Düppel ab. Damit wurden die deutschen Radargeräte und Leitstände der Flugabwehr sowie der Nachtjäger empfindlich gestört. Auf den Radarschirmen sah es aus, als griffen sagenhafte 11.000 Bomber an, doch es waren „nur“ 791 gegen eine gut gerüstete Stadt. Aber die 71 Flakbatterien mit ihren insgesamt 346 Rohren sowie 15 Nachtjagdstaffeln waren jetzt „blind“.

Bis zu diesem ersten nächtlichen Großangriff auf Hamburg hatte das „Bombing Command“ stets mit rund zehn Prozent eigenen Verlusten pro Angriff kalkuliert. Für die vorwiegend blutjungen Bomberbesatzungen war somit jeder Feindflug ein Himmelfahrtskommando. Die britischen Flieger hatten sich zu 30 Einsätzen verpflichtet, von den 30.000 Männern sollte bis Kriegsende ein Drittel fallen.

Auch die Zivilbevölkerung war auf Luftangriffe vorbereitet. „Von 1937 an mussten wir bereits regelmäßig Luftschutz- und Verdunkelungsübungen abhalten“, erzählt Lore Bünger, die damals in der Großen Brunnenstraße 42 in Altona wohnte. „Auf allen Dachböden standen Feuerpatschen und Wassereimer sowie Löschsand bereit.“ Allein schon deswegen, meint sie, hätte man eigentlich ahnen müssen, dass die Zeichen wohl schon früher als angenommen auf Krieg standen.

Lore Bünger war damals 20 Jahre alt. Sie arbeitete als Zivilangestellte in der Kommandatur des Luftgau-Kommandos X, draußen in Rissen. Am 24. Juli hatte sie frei. Kurz vor Mitternacht wurde sie von den Sirenen aus dem Bett gescheucht und rannte, gemeinsam mit ihrer Großmutter, zum Altonaer Hochbunker in der Arnoldstraße. „Bis dahin hatten wir schon 141 Luftangriffe überstanden. Dann waren irgendwo in Hamburg ein paar Häuser oder eine Industrieanlage kaputt, man nahm das alles nicht so ernst, aber in dieser Nacht war dann alles anders“, erzählt sie. „Entwarnung gab es erst nach endlosen vier Stunden. Als ich aus dem Bunker rauskam, war ich geschockt: Der benachbarte Tiefbunker hatte einen Volltreffer abbekommen und alle Menschen darin waren tot. Aber man ließ das nicht so sehr an sich heran. Und andererseits war ich ja auch glücklich, dass Ottensen so wenig auf den Kopf bekommen hatte und unser Haus noch stand.“

Ein Orkan aus Hitze und Flammen sog aus den Kellern den Sauerstoff

Das Ausmaß der Schäden sah Lore Bünger erst am nächsten Morgen, als sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg nach Eilbek machte, aus Sorge um die Schwestern ihrer Großmutter. „Das Telefon war ja kaputt“, sagt sie. „Bis zum Altoner Bahnhof konnte ich noch radeln, doch am Anfang der Großen Bergstraße stand ich dann vor einem Trümmerberg. Ich dachte, die Straße müsste doch gleich wieder frei sein, hob mein Rad hoch und fing an, über die Trümmer zu klettern. Aber die Zerstörungen nahmen kein Ende. Es ragte mal ein Arm, mal ein Bein zwischen den Steinen hervor, es wurde immer schrecklicher und unwirklicher, aber zurück konnte ich nicht mehr.“

Durch fehlerhafte Zielmarkierungen (der Orientierungspunkt war die St.-Nikolai-Kirche im Stadtkern gewesen) erstreckten sich die Schäden durch den Abwurf von insgesamt rund 2300 Tonnen Bomben über ein weites Gebiet. In der Innenstadt, in Hoheluft, Eimsbüttel und Altona war es zu ausgedehnten Flächenbränden gekommen, auch einige der nordwestlichen Vororte Hamburgs waren getroffen worden. Die Luftschutzleitung schätzte die Zahl der Todesopfer auf rund 1500. Von den 791 britischen Bombern kehrten nur zwölf nicht zurück, was das „Bombing Command“ als großen Erfolg wertete.

Doch dann, mit dem zweiten nächtlichen Großangriff vom 27. auf den 28. Juli, wurde Hamburg zum Fanal und nach der Niederlage der 6. Armee in Stalingrad zum zweiten mitentscheidenden Wendepunkt des Krieges. „Nicht zuletzt war dieser Angriff schlagender Beweis dafür, dass es möglich ist, mit verhältnismäßig geringem Aufwand bei kaum nennenswerten eigenen Verlusten binnen weniger Stunden mehrere Zehntausend Menschen umzubringen und eine in Jahrhunderten geschaffene Stadtkultur dem Erdboden gleichzumachen“, sagt der Berliner Historiker Jörg Friedrich, der mit seinem Standardwerk „Der Brand“ ein literarisches Mahnmal gegen den industrialisierten Bombenkrieg geschaffen hat. So sollten in dieser Juli-Nacht die Stadtteile Eilbek, Wandsbek, Hamm und Hohenfelde beinahe gänzlich, Borgfelde, Hammerbrook und Rothenburgsort völlig untergehen. Dabei dauerte der eigentliche Angriff der 743 Bomber gerade mal 43 Minuten. Um 3.30 Uhr brannte es von Wandsbek bis zum Berliner Tor auf einer Länge von über vier Kilometern, standen 16.000 Wohnblocks mit einer Straßenfront von 215 Kilometern in Flammen, doch nach fünf Stunden fand das Feuer keine Nahrung mehr.

Wäre es Fritz Thomas beispielsweise gelungen, hinaus auf die Süderstraße zu flüchten, hätte ihn und seine kleine Tochter mit großer Wahrscheinlichkeit der sichere Tod erwartet: ein Orkan aus Hitze und Flammen, der mit 15 Metern pro Sekunde durch die Straße raste und aus den Häuserkellern „den Sauerstoff herauszog wie mit einer gigantischen Pumpe“, schreibt Friedrich. „Die ihm begegneten, wurden in den Schmelzofen gerissen wie die armen Seelen in die Verdammnis.“

Der Sog sei so stark gewesen, „dass sich selbst große Straßenbäume in Richtung des Flammenmeers bogen“, beschrieb der Hamburger Publizist Ralph Giordano das Inferno. Er sollte zwei Tage später mit seiner Familie den dritten von insgesamt vier Großangriffen überleben, der am 29. Juli 1943 die Stadtteile Barmbek, Winterhude und Uhlenhorst schwer verwüstete, aber „nur“ große Flächenbrände entfachte und rund 1000 Todesopfer forderte.

Günter Lucks, heute 84, damals ein 15-jähriger Hitlerjunge, erlebte den zweiten Angriff gemeinsam mit seinem 17-jährigen Bruder Hermann im Luftschutzkeller am Nagelsweg 49. „Die Hölle auf Erden war das“, sagt er, „die Flak schoss wie verrückt, dann gab es einen Volltreffer im Hinterhaus, einen furchtbaren Knall, der gesamte Keller schwankte, das blaue Notlicht ging aus, und wir schrien alle durcheinander. Aber die Angriffswellen hörten und hörten nicht auf. Ein älterer Nachbar kriegte einen Herzinfarkt. Wir sagten uns: ,Wo es einmal eingeschlagen hat, schlägt es kein zweites Mal ein.‘“

Um 2.25 Uhr trug ein Dienstführer der Hamburger Luftschutzleitung jenen Begriff in seine Kladde ein, der für immer mit dieser Nacht verbunden sein wird: „Feuersturm“.

900.000 Hamburger flohen aus der Stadt, zu Fuß, auf Zügen, Lkw, Booten

In der Geschichtswerkstatt in Hamm liegen ein paar Devotionalien aus jener Nacht unter Glas: eine Flasche, von der bis zu 1000 Grad heißen Luft grotesk verformt, eine durchgeglühte Taschenuhr, eine verbogene Gabel. Die Hitze sei sogar in 7000 Metern Höhe zu spüren gewesen, berichteten Bomberpiloten der letzten Angriffswelle, der heiße Wind trug selbst halb verbrannte Bücher bis zu 50 Kilometer nach Norden. Menschen sprangen als lebende Fackeln in die Kanäle, doch wenn sie wieder auftauchten, entzündete sich der Phosphor sofort wieder aufs Neue.

„Auch unser Dachstuhl brannte“, erzählt Günter Lucks, „wir versuchten die Flammen zu löschen, aber das war aussichtslos. Ich wurde durch die Brandgase ohnmächtig. Mein Bruder trug mich hinunter und legte mich auf die Treppe in den Hauseingang, wo ich wieder zu mir kam. Wir beide spürten die Hitze draußen, dauernd kamen Trümmer runter, aber Hermann wollte nach unserer Tante Olga sehen, die ein paar Häuser weiter wohnte. Er sagte, ich solle warten, er käme gleich wieder. Aber ich habe ihn nie wiedergesehen. Der Feuersturm wird ihn wohl verbrannt haben, und unsere Tante war nicht mal zu Hause gewesen, sondern in ihrem Schrebergarten in Billbrook.“

Als der neue Tag anbrach, standen die Überlebenden des Infernos fassungslos in einer glühenden, rauchenden Trümmerlandschaft, aus der die rußgeschwärzten Hausfassaden wie bröckelige Zähne in den grauen Himmel ragten. Die Sonne kam nicht durch. Zusammenstürzende Mauern, Bomben mit Zeitzündern, vor allem aber die schwelende Gluthitze machten die Rettung von Verschütteten praktisch unmöglich. „Überall in den Kellern und auf den Straßen lagen Tote, völlig verkohlt oder auf Kindergröße zusammengeschrumpft“, erinnert sich Lucks, „manchmal ragten auch nur Knochen aus dem geschmolzenen Asphalt. Ein Fähnleinführer befahl einem anderen Hitlerjungen und mir, Leichenteile von der Straße zu kratzen und in einer Zinkwanne zu sammeln. Doch ich bin abgehauen. Ich konnte das nicht.“

Als die Trümmer und Bunker langsam abgekühlt waren, mussten KZ-Häftlinge diese grausame Arbeit verrichten. Lastwagen, randvoll beladen mit Leichen, rollten noch wochenlang zu den eilig ausgehobenen Massengräbern auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Der Exodus der Hamburger hatte schon kurz vor dem letzten Großangriff begonnen (der am 4. August 1943, im Vergleich zu den vorangegangenen Bombardements, jedoch relativ geringe Schäden anrichtete): 900.000 Bewohner flohen aus der Stadt, zu Fuß, mit Fahrrädern, Handwagen, Fuhrwerken; auf Lastwagen, mit der Eisenbahn, mit Booten und Schiffen. Auf einem der überfüllten Lastkähne gelangte auch Gerda Kappler nach Lauenburg, wo sich eine kinderlose Schifferfamilie des offenbar verwaisten Babys annahm. Dessen Mutter reiste zu diesem Zeitpunkt dem Flüchtlingsstrom aus dem Schwarzwald kommend entgegen. Sie war sofort nach Hamburg aufgebrochen, als sich die Katastrophennachricht im Reich verbreitet hatte.

Anfang August erfuhr sie vor der ausgebrannten Ruine ihres Hauses, dass sie ihren Mann und ihre Mutter verloren hatte – und dass ihre Tochter Gerda verschollen war. „Meine Mutter begann verzweifelt nach mir zu suchen. Sie konnte sich mit diesem Schicksal nicht abfinden“, berichtet Gerda Kappler. Am 10. August 1943 geschah dann das Wunder: „Eine ebenfalls ausgebombte Frau aus ihrem Viertel, mit der meine Mutter zufällig eine Nacht auf dem Hauptbahnhof verbringen musste, erzählte ihr, dass ein Luftschutzwart aus einem Keller ein Baby gerettet habe, ein Mädchen“, sagt Gerda Kappler. „So konnte sie sich bis zu meiner Pflegefamilie durchfragen, die mich eigentlich gar nicht mehr hergeben wollte…“ Nach sechs Wochen schloss Carla Thomas ihre jüngere Tochter wieder in die Arme, im Krieg spielen Glück und Zufall sehr häufig eine schicksalhafte Rolle.

Bereits Ende September 1943 meldete Hamburg sich wieder „luftschutzbereit“, und die Industriebetriebe hatten wieder ihre Produktion aufgenommen. „Die Menschen waren lethargisch, apathisch“, sagt Günter Lucks, „doch der tägliche Kampf um Lebensmittelkarten oder menschenwürdige Unterkünfte hielt sie aufrecht.“ Die Begeisterung über den Besuch des Reichsluftmarschalls Hermann Göring am 6. August 1943 sei natürlich nur in der Wochenschau zu sehen gewesen.

„Das Flächenbombardement gegen deutsche Städte war eine schreckliche Strategie von beschränktem militärischen Nutzen in einem exzellent begründeten Krieg“, sagt Jörg Friedrich, „die Gefallenen der Hamburger Juli-Angriffe sind neben denen Dresdens, Tokios, Hiroshimas und Nagasakis Chiffren des Äußersten, was Waffengewalt der Kreatur zufügte.“ Insgesamt verloren mehr als 55.000 zivile Hamburgerinnen und Hamburger während des Krieges ihr Leben, das entspricht einem Zehntel der deutschen Gesamtopferzahl des Bombenkriegs.

Günter Lucks, der kurz nach dem Inferno als SS-Kindersoldat an die Ostfront geschickt wurde, kehrte erst im Jahre 1951 aus der sowjetischen Gefangenschaft zurück. „Nach dem Krieg konnte ich von Hamm und Borgfelde aus bis runter in den Hafen sehen.“