Hamburg. In Stephen Kings neuem Thriller gibt es ein Wiederlesen mit einer sehr speziellen Privatdetektivin. Was seine Fans noch erwartet.

Es wird Herbst, die Nächte werden länger. Die ideale Zeit des Jahres für eine neue Portion Unwohlsein in Buchform, mit freundlichen Grüßen verursacht von Stephen King, die genau einen Tag vor dessen 76. Geburtstag in Deutschland erscheint. Und wie immer beginnt alles halbwegs harmlos: Eine junge Frau, Bibliothekarin in einer kleinen Universitätsstadt, ist verschwunden, an ihr Fahrrad klebte sie einen Zettel mit „ICH HABE GENUG“.

Holly Gibney soll sie im Auftrag ihrer Mutter wiederfinden. So weit, so Durchschnitts-Krimi. Doch natürlich bleibt es nicht so lauwarm. Nachdem „Fairy Tale“, Kings letzter Schmöker, eine sonderbar unausgewogene, überlangatmige 900-Seiten-Mischung aus Fantasy und Märchen war, zu viel zum Auslassen, zu wenig zum Mögen, findet King in „Holly“ nun wieder, auf sichererem Terrain, zu alter Form zurück.

Stephen King: Titelheldin in „Holly“ ist keine Unbekannte

Neuer Herbst, neuer Roman: Bestseller-Autor Stephen King erzählt in „Holly“ eine blutrünstige Geschichte.
Neuer Herbst, neuer Roman: Bestseller-Autor Stephen King erzählt in „Holly“ eine blutrünstige Geschichte. © ©Shane Leonard | ©Shane Leonard

King-Stammkunden kennen die nur ganz leicht verschrobene Privatdetektivin und Titelheldin als immer wichtiger werdenden Nebencharakter in der Bill-Hodges-Trilogie, die 2014 mit „Mr. Mercedes“ furchterregend begann und sich dann steigerte; ihre Schrullen sind ihrem Schöpfer so sehr ans Herz gewachsen, dass er nun in seinem Charakter-Multiversum eine Ableger-Nische für sie mit einer extrem fiesen Alltags-Horror-Geschichte möbliert hat.

Denn dass die Bibliothekarin Bonnie Dahl kein tragischer Einzelfall ist, wissen die Leser schon, bevor sie zum ersten Mal namentlich erwähnt wird. Alle paar Jahre wieder verschwanden vor ihr Menschen, nicht wahllos, aber doch scheinbar unzusammenhängend. Und jedes Mal, als sie einem scheinbar hilflosen älteren Ehepaar behilflich sein wollten, Emily und Rodney Harris.

Stephen King „Holly“: Traue niemandem über 80

Ein Professoren-Ehepaar im verdienten Ruhestand, wie aus dem Bilderbuch einer beschaulich amüsanten Vorabendserie, sie Literaturwissenschaftlerin, er ein auf Ernährung spezialisierter Biologe, beide leider nicht mehr gut zu Fuß, Rodney hat inzwischen hin und wieder lästige Gedächtnisaussetzer. Einer von beiden saß dann irgendwo am Straßenrand im Rollstuhl und sollte nur schnell in den Familien-Kleinlaster geschoben werden.

Kein Ding, Professor, macht man doch gern. Und dann sticht einen etwas von hinten in den Nacken, was eindeutig keine Wespe ist. Nicht nur Jorge Castro, das erste von etlichen Opfern, findet sich danach in einem Käfig in einem Keller wieder. Dort soll er – Anweisung von Emily auf der anderen Seite der Gitterstäbe – eine große Portion Kalbsleber vertilgen. Roh. Von Anfang an ist also klar, wo die Serien-Täter zu finden wären. Für das Warum, eindeutig formuliert, lässt sich King bis zu Seite 137 Zeit. Weil er es kann.

Unerlässlich zur Möblierung dieses Plots, der in der Mitte der Corona-Gegenwart im Sommer 2021 spielt, sind zwei gute Bekannte aus den Vorgänger-Romanen, das manchmal nervend-gescheite Geschwisterpaar Barbara und Jerome Robinson. King gönnt sich zudem das private, öffentlich auf Twitter gründlich ausgelebte Vergnügen, sowohl Trump-Fans als auch Impfgegner als das darzustellen, was sie seiner Meinung nach sind.

Neuer Thriller „Holly“: „Mich interessiert das Geheimnis, wozu wir fähig sind“

Ebenso perfide wie genüsslich zieht King, Kapitel um Kapitel, immer enger werdende Kreise um die beiden Senioren Mit jedem Puzzle-Stein, das Holly in die richtige Richtung bewegt, wird ihre Ahnung konkreter. Immer wieder Rückblenden, um den Rhythmus der Opfer und den Umgang mit ihnen zu schildern. Immer wieder neue Facetten, die mit perfide freundlicher Anteilnahme erklären, warum die beiden Senioren sich so ganz und gar nicht wie andere Senioren verhalten.

Buchcover „Holly“
Buchcover „Holly“ © (c) Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Muenchen

Der Erzählrhythmus kocht auf klein gehaltener Flamme genüsslich vor sich hin, 620 Seiten sind eine handelsübliche King-Dosis, souverän im Tempo gehalten. „Die Leute können mich ruhig einen Horror-Autor nennen, soll mir recht sein, solange die Schecks nicht platzen. Aber ich glaube, dass ich viel mehr als das bin. Mich interessiert das Geheimnis, was wir sind und wozu wir fähig sind“, meinte der unermüdliche Vielschreiber in einem Interview über sein Bestseller-Abonnement.

Stephen King: Neuer Roman hat zwei Handlungsebenen

Wie zum Ausgleich für das Abtauchen in diese menschlichen Abgründe zieht King einen zweiten roten Faden in seine Geschichte ein, der entschieden harmloser und lyrischer ist, weil es dabei um die Freuden und die Aufrichtigkeitssuche beim literarischen Schreiben geht. Diese Handlungs-Ebene ist wärmend und sonnig, rührend und freundlich menschelnd.

Der Hauptschauplatz ist es jedenfalls nicht. Und für 2024 haben Kingologen bereits mindestens eine nächste Schrecklichkeit am Horizont ausgemacht, eine Kurzgeschichtensammlung mit dem vielversprechend nackenhaarsträubenden Titel „You Like It Darker“.

Stephen King „Holly“. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt. Heyne, 640 Seiten, 28 Euro.