Christoph de Vries (CDU) über den Protest der Jugendamtsmitarbeiter und die Reaktion von Senator Scheele (SPD)

Hamburg. Hamburgs Sozialarbeiter sind auf Zinne. Am Freitag protestierten rund 250 Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) für bessere Arbeitsbedingungen. Wie steht es um Hamburgs Kinder- und Jugendhilfesystem? Fragen an Christoph de Vries, familienpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion und Obmann der Partei im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA), der die Hintergründe des tragischen Todes der dreijährigen Yagmur aufklären soll.

Hamburger Abendblatt: Was müsste bei der Hamburger Jugendhilfe dringend verändert werden?
Christoph de Vries: Es ist spätestens seit der Veröffentlichung der sogenannten Koblenzer Studie von Professor Schrapper ein offenes Geheimnis, dass Demotivation und Desorganisation in einigen ASD-Dienststellen in Hamburg vorherrschend sind. Der Umstand, dass sechs Mädchen, die überwiegend in staatlicher Obhut waren, in den letzten zehn Jahren zu Tode gekommen sind, ist ein klares Indiz dafür, dass es Missstände und Probleme in Hamburgs Jugendhilfe gibt. Hamburg hat nach den Todesfällen immer umfangreiche Veränderungen und Maßnahmen eingeleitet, die dazu geführt haben, dass sich ein weiterer Todesfall in ähnlicher Konstellation nicht wiederholt hat. Aber es konnte nicht verhindert werden, dass weitere Kinder später in Folge anderer Umstände zu Tode kamen.

Das ist ernüchternd und macht einen auch betroffen. Es muss Schluss damit sein, dass linke Kräfte im Parlament reflexartig nur mehr Personal fordert, verbunden mit dem Versprechen, dies würde alle Probleme heilen. Und es muss Schluss damit sein, dass der verantwortliche Senator Detlef Scheele mit Beschwichtigungsparolen und Schönfärberei in der Öffentlichkeit auftritt, weil er von den Problemen und Arbeitsbedingungen der ASD-Mitarbeiter Lichtjahre entfernt ist, weil er diese entweder nicht wahrhaben will oder sich damit nicht auseinandersetzt. Wir brauchen aber auch unbedingt mehr Selbstreflektion bei den ASD-Kräften. Wenn bei einem Kind über Jahre blaue Flecken, Hautabschürfungen und andere Verletzungen festgestellt werden, fadenscheinige Erklärungen der Eltern leichtgläubig hingenommen werden und der ASD in kollegialer Beratung mit fünf bis sechs Mitarbeitern nach ausgiebiger Erörterung entscheidet, ein Kind, das bereits einmal fast zu Tode gekommen war, zu seinen leiblichen Eltern zurückzuschicken, dann wird klar, dass es ein ernsthaftes Problem gibt, das mit Personalmangel nicht zu erklären ist.

Die ASD-Mitarbeiter fordern jetzt als Sofortmaßnahme 65 neue Mitarbeiter für den ASD und eine Fallobergrenze von 28 Fällen. Teilen Sie diese Auffassung?
de Vries: Jeder weiß, dass Fall nicht gleich Fall ist. Ein gut funktionierendes Pflegeverhältnis, bei dem der ASD vielleicht ein-, zweimal jährlich in Kontakt tritt, ist vom Arbeitsumfang her etwas völlig anderes als eine Familie, bei der laufend Kriseninterventionen erforderlich sind. Deswegen ist eine pauschale Personalaufstockung nicht zielführend. Fatal ist, dass Senator Scheele seit seinem Amtsantritt von der Einrichtung eines Personalbedarfsbemessungssystems spricht und bei der Umsetzung bis zum Tod von Yagmur keinen wesentlichen Schritt vorangekommen ist. Ich habe den Eindruck, dass mit der Ankündigung die Mitarbeiter über Jahre nur beschwichtigt wurden. Über eine sinnvolle Fallbegrenzung muss entschieden werden, wenn die Konzeption Scheeles für das Personalbedarfsbemessungssystem endlich steht.

Das 133,5 Millionen Euro teure Dokumentationssystem Jus It soll nach Ansicht vieler ASD-Mitarbeiter auf den Prüfstand oder abgeschafft werden. Es sei kompliziert, zeitraubend, fehlerbehaftet und diene zur Überwachung.
de Vries: Die Fragen richten sich wohl vornehmlich an die Behörde. Scheele hat im Familienausschuss zuletzt immer wieder versichert, dass die Probleme bei der Anwendung von Jus It inzwischen weitgehend abgestellt seien. Die Diskrepanz zur Darstellung der Mitarbeiter ist enorm und zeigt, dass Scheele keinen richtigen Einblick in die tägliche Arbeit seiner ASD-Mitarbeiter hat, sondern anscheinend aus dem Elfenbeinturm operiert. Ich glaube, dass Jus It grundsätzlich richtig ist. Wir brauchen auch wegen der hohen Mitarbeiter-Fluktuation und der häufigen Zuständigkeitswechsel der Jugendämter bei Umzügen der Klienten eine elektronische Aktenführung, die sicherstellt, dass die fallverantwortliche Fachkraft jederzeit einen vollständigen Überblick über den Fall hat. Und es ist auch gut, wenn Mitarbeiter daran erinnert werden, dass Hilfeplangespräche durchzuführen und zu dokumentieren sind. Dies sollte mehr als Unterstützungsinstrument und weniger als Kontrollinstrument betrachtet werden. Fast jeder Todesfall in der Vergangenheit zeigt, dass es Probleme bei Zuständigkeitswechseln gab, weil wichtige Informationen durch unzureichende Aktendokumentation verloren gegangen sind.

Viele ASD-Mitarbeiter wollen auch die Jugendhilfeinspektion abgeschafft sehen. Sie sei weder hilfreich, noch erzeuge sie fachliche Sicherheit, sondern verstärke die Angst, etwas falsch zu entscheiden.
de Vries: Für eine Bewertung ist es viel zu früh. Die Jugendhilfeinspektion arbeitet erst seit wenigen Monaten, und dem Parlament liegt noch kein Bericht über die Ergebnisse der Inspektion vor. Wir wollen, dass Ergebnisse anonymisiert veröffentlicht werden, damit die Politik Abhilfe leisten kann.

Was erhoffen Sie sich von der Befragung der ASD-Mitarbeiter im PUA am 6. Mai?
de Vries: Für mich ist von ganz besonderer Bedeutung, dass wir im PUA von den Mitarbeitern selbst über ihre tägliche Arbeit erfahren, dass wir verstehen, warum aus welchen Gründen wie entschieden wird, dass wir erfahren, wo es rechtlichen Änderungsbedarf gibt und wo der Schuh besonders drückt. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, um aus dem Tod des Mädchens die richtigen fachlichen und politischen Schlüsse ziehen zu können. Deswegen erhoffe ich mir die Bereitschaft und den Mut der Mitarbeiter, im PUA Rede und Antwort zu stehen. Dies können gern auch Mitarbeiter sein, die mit dem Fall konkret nichts zu tun haben und insofern auch keine Befürchtungen haben müssen im Hinblick auf ihre Aussagen. Wir brauchen ungeschönte Antworten aus der Praxis. Es geht nicht darum, Mitarbeiter an den Pranger zu stellen und ihre Arbeit zu diskreditieren.