„Fehler bei Altersbestimmung“: Oft werden Jugendliche als Erwachsene eingestuft. Geprüft werden dazu nur ihre Zähne

Altona. Sie sind noch sehr jung und flüchten ohne ihre Eltern aus Afghanistan und Westafrika nach Hamburg. Weil sie ohne Erwachsene und Papiere einreisen, muss der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) zunächst ihr Alter ermitteln. Danach entscheidet sich, ob die Flüchtlinge als Minderjährige in staatliche Obhut kommen können und Anspruch auf Schulbildung haben. Oder ob sie sich als Erwachsene in der Erstaufnahmestelle einem Asylverfahren unterziehen müssen.

Jetzt erhebt Anne Harms, Leiterin von „Fluchtpunkt“, der kirchlichen Hilfsstelle für Flüchtlinge, schwere Vorwürfe. Immer häufiger würde das Alter der Mädchen und Jungen nicht mehr durch medizinische Untersuchungen im Institut für Rechtsmedizin geklärt, sondern nur noch auf der Basis einer Beurteilung des äußeren Erscheinungsbildes, sagte Harms dem Abendblatt. Für das Ausfüllen dieses Papiers sind nicht Mediziner, sondern Fachkräfte des Kinder- und Jugendnotdienstes zuständig. „Sie schauen subjektiv auf Stirn- und Halsfalten – und nicht darauf, ob wirklicher Jugendhilfebedarf besteht.“ Nach Ansicht von „Fluchtpunkt“ ist die Fehlerquote hoch.

Mit der Folge, dass junge Flüchtlinge nicht als minderjährig eingestuft werden. Anne Harms: „Ihre Volljährigkeit wird einfach festgelegt, sie erhalten ein fiktives Geburtsdatum. Und landen in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende.“ Als Erwachsene könnten sie leichter abgeschoben werden. Zwar sei es ein Erfolg, dass nicht mehr die Ausländerbehörde über den Schutz der Minderjährigen entscheidet, sondern der KJND. „Aber unsere Hoffnung, dass verstärkt pädagogische Aspekte in die Beurteilung einfließen, hat sich leider nicht erfüllt.“ Außerdem genüge eine bloße Inaugenscheinnahme nicht.

Seit 2008 registrieren die Hamburger Behörden eine starke Zunahme minderjähriger Flüchtlinge. Während der Kinder- und Jugendnotdienst 2007 gerade mal 20 junge Zuwanderer in Obhut genommen hat, waren es 2012 bereits 623. Alle, die angeben, minderjährig zu sein, müssen sich diesem Verfahren stellen. Die dem Landesbetrieb für Erziehung und Beratung zugeordnete Abteilung überprüft das Alter auf der Basis biografischer Daten und der äußeren Erscheinung wie „postpubertärer Körpermerkmale“. Wie Klaus-Dieter Müller, Geschäftsführer des Landesbetriebs für Erziehung und Beratung, dem Abendblatt sagte, wollten seit September 2010 insgesamt 3419 junge Menschen als minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in Obhut genommen werden. 22 bis 36 Prozent von ihnen wurden seitdem als „offensichtlich volljährig“ eingestuft.

Flüchtlingsexpertin Harms berichtet allerdings von Fällen, bei denen sich die Altersbestimmung des KJND nach späterer medizinischer Untersuchung als falsch herausgestellt hat – die Flüchtlinge waren tatsächlich noch minderjährig. Harms setzt die Fehlerquote bei immerhin 50 Prozent an. Das gehe aus einer nicht repräsentativen Stichprobe hervor. Klaus-Dieter Müller vom Landesbetrieb für Erziehung und Beratung sagte dazu: „Von 2012 bis 2013 gab es acht von ‚Fluchtpunkt‘ betriebene und mittlerweile abgeschlossene Verfahren, in denen eine medizinische Altersfeststellung nachträglich durchgeführt wurde. Davon ergaben drei Untersuchungen die Wahrscheinlichkeit zugunsten einer Minderjährigkeit.“

Zwar hat der medizinische Alters-Check auch seine methodischen Schwächen. Aber in der Fachwelt herrscht ein breiter Konsens darüber, dass die zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und die Röntgenuntersuchung des Gebisses als die derzeit am besten geeignete Methode gilt. Sie wird im Hamburger Institut für Rechtsmedizin praktiziert. Eine Röntgenuntersuchung der linken Hand wird in diesen Fällen nach Angaben von Anne Harms nicht mehr vorgenommen. „Diese Untersuchungen“, sagt sie, „seien für die Flüchtlinge zwar nicht schön. Aber sie sind besser, als sie wegzuschicken.“ Wie Klaus-Dieter Müller betont, arbeitet das Institut für Rechtsmedizin bei der Altersfestlegung mit wissenschaftlich abgesicherten Wahrscheinlichkeiten. Zweifel oder anzunehmende Altersspannen würden zugunsten des Flüchtlings ausgelegt. „Es wird also jeweils das nach dem Gutachten geringste Lebensalter angenommen. Im Zweifel für die Minderjährigkeit.“

Flüchtlingsexperten sehen allerdings die Tendenz verbreitet, Flüchtlinge älter zu machen als sie womöglich sind. Während der Landesbetrieb für Erziehung und Beratung betont, dass der KJND mittlerweile über eine sehr breite Erfahrung verfügt und es eine äußerst geringe Zahl von erfolgreichen Widersprüchen gibt, zeigt sich der Hamburger Flüchtlingsrat empört über die Praxis der Altersbestimmung auf der Basis von Stirnfalten und Körperbehaarung. Anwalt Hubert Heinhold spekuliert über die staatlichen Motive: „Ein jugendlicher Asylbewerber kostet den Staat bis zu 9000 Euro im Monat, ein Erwachsener dagegen nur rund 1000 Euro.“ Gegenwärtig kämpft Harms für den jungen Mujibullah aus Afghanistan, der vor den Taliban nach Deutschland floh. „Wir wissen nicht, wie alt er ist. Die fällige Untersuchung durch die Rechtsmedizin ist aber besser als gar keine Überprüfung der subjektiven Einschätzung durch den KJND.“