Gedacht ist an Strecken nach Osdorf, Lurup oder Steilshoop. Bürgermeister an Kauf der Roten Flora interessiert – aber zu niedrigem Preis

Hamburg. Es sollte ein vorweihnachtliches Gespräch werden, etwas Bilanz 2013, etwas Ausblick auf 2014. Doch angesichts der aktuellen Nachrichten dreht sich das Interview mit Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) überwiegend um ernste Themen.

Hamburger Abendblatt:

Herr Scholz, wenige Tage vor Weihnachten erschüttert der Tod eines drei Jahres alten Mädchens in Billstedt die Stadt. Was empfinden Sie?

Olaf Scholz:

Der Tod des Kindes erschüttert die Stadt genau so wie mich. Mein Empfinden unterscheidet sich nicht von dem der Bürgerinnen und Bürger.

Nach Michelle, Jessica, Lara-Mia und Chantal ist das der fünfte aufsehenerregende Fall in Hamburg. Läuft etwas falsch, und wenn ja, was?

Scholz:

Das müssen wir unbedingt herausfinden. Ein Kind ist zu Tode gekommen, und es muss geklärt werden, was genau passiert ist. Ohne falsche Rücksicht. Daran wird bereits seit Mittwochmorgen gearbeitet.

Für Brisanz sorgen auch Demonstrationen am Wochenende, für die es mehrere Anlässe gibt. Fangen wir mit dem Abriss der Esso-Häuser auf St. Pauli an. Wie sehr regt es sie auf, dass die Besitzer der Wohnhäuser diese über Jahre verkommen ließen und dann an einen Investor verkauften, der sie nur noch abreißen kann?

Scholz:

Der schlechte Zustand der Häuser ist das Ergebnis jahrzehntelanger Vernachlässigung und deshalb wohl am wenigsten den heutigen Besitzern vorzuwerfen. Hier möchte jemand neu bauen – an einer Stelle, an der Gebäude stehen, die marode sind und sich nicht mehr halten lassen. Der Bezirk und wir haben uns sehr engagiert, sodass es eine Rückkehrmöglichkeit für die Bewohner der Esso-Häuser geben wird. Um die muss es jetzt gehen. Auch für die Musikclubs wollen wir gute Perspektiven schaffen. Und zu Ihrer Frage: Grundsätzlich gilt, was im Grundgesetz steht. Eigentum verpflichtet. Das bedeutet für Wohnungen, dass man sie pflegt, instand hält und in sie investiert. Das tun nicht alle. Aber ein ausreichendes Angebot an Wohnungen wird auch dazu führen, dass einzelne Besitzer sich nicht alles erlauben können.

Ähnlich große Symbolkraft wie die Esso-Häuser hat die Rote Flora. Deren Eigentümer Klausmartin Kretschmer will das Gebäude zurückhaben und droht, es räumen zu lassen. Das führt vermutlich zu einer starken Mobilisierung für die Demonstration am Wochenende. Haben Sie Verständnis für sein Vorgehen?

Scholz:

Herr Kretschmer hat die Immobilie damals für einen günstigen Preis erworben – als Kulturinvestor, wie er sich selbst dargestellt hat. Er hat gehofft, dass sich die Dinge ohne staatliche Intervention in einem quasi nicht-staatlichen Bereich gut entwickeln können. Diese Hoffnung hat er offenbar aufgegeben.

Können Sie verstehen, dass er die Besetzer aus seiner Immobilie heraushaben möchte?

Scholz:

Falls er diesen Weg beschreiten will, steht er vor einem aufwendigen zivilrechtlichen Verfahren. Im Übrigen haben wir immer gesagt, dass wir die Immobilie zu einem seriösen und vertretbaren Preis wieder übernehmen könnten. Aber die Preisvorstellung des Eigentümers hat mit dem, was man mit einem klassischen Wertgutachten ermitteln kann, nichts zu tun.

Drittes „Symbol“ für Proteste ist die Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge. Sie haben bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt gesagt, dass diese Gruppe keine Zukunft in Hamburg hat. Ist das nicht ein Widerspruch dazu, erst über das weitere Vorgehen zu entscheiden, wenn die Fluchtgeschichten bekannt sind?

Scholz:

Nein. Wir haben von Anfang an darauf bestanden, dass die Männer Anträge stellen. Weil das lange nicht der Fall war, konnten wir uns nur auf das beziehen, was wir aus den Medien über die Männer erfahren haben. Deutschland ist ein Rechtsstaat. Jeder Einzelne hat einen Anspruch darauf, einen Antrag auf Asyl, eine Duldung oder Bleiberecht zu stellen. Diese Anträge werden individuell geprüft, für jeden einzelnen Antragsteller. Voraussetzung dafür ist, dass man seinen Namen nennt und seine Fluchtgeschichte schildert. So tun das jeden Monat Hunderte Männer und Frauen, die nach Hamburg kommen. Für jeden, der einen Antrag gestellt hat, sind wir als Staat verantwortlich. Wir stellen eine Unterkunft und sorgen für Verpflegung und Betreuung. Übrigens: Unterdessen haben auch die Männer der Gruppe Anträge gestellt und werden untergebracht. In der St.-Pauli-Kirche ist niemand mehr.

Anderes Thema. Sie müssen für 1,5 Milliarden Euro Energienetze zurückkaufen. Wie sehr setzen Sie darauf, dass Vattenfall seine 74,9 Prozent an den Strom- und Fernwärmenetzen freiwillig verkauft?

Scholz:

Ich will nicht spekulieren. Wir können die Strom-, Gas- und Fernwärmenetze entweder über langwierige Konzessions- und Gerichtsverfahren und zu einem dann wohl vom Gericht festgesetzten Preis zurückbekommen. Oder wir loten aus, ob wir sie nicht einvernehmlich erwerben können. Dafür gibt es eine Frist bis Mitte Januar. Diese Variante halte ich für richtig.

Gehen Sie von einer Einigung aus?

Scholz:

Am Ende ist das eine Frage des Geldes.

Wie weit liegen Sie denn auseinander?

Scholz:

Jedenfalls nicht so weit, dass die Beteiligten keine Hoffnung mehr haben, zu einer Einigung zu kommen.

Kaum ist der Volksentscheid zu den Netzen aus Ihrer Sicht verloren, droht der nächste – zur Frage, ob die Schulzeit an Gymnasien acht oder neun Jahre betragen soll. Wie weit werden Sie der G9-Initiative entgegenkommen, um diese mögliche Abstimmung zu verhindern?

Scholz:

Die vereinbarte Schulreform führt zu einer ganzen Reihe von positiven Veränderungen: kleinere Klassen an Grundschulen, Ganztagsbetreuung an fast allen Grundschulen, nur noch zwei weiterführende Schulformen mit Gymnasium und Stadtteilschule, die meisten davon mit Ganztagsbetreuung und vieles mehr – zum Beispiel die Inklusion. Um das alles erfolgreich umzusetzen und darüber hinaus den Sanierungsstau zu beheben, investieren wir in den nächsten Jahren rund zwei Milliarden Euro. Die Bürgerinnen und Bürger haben im Jahr 2010 meinen Vorschlag begrüßt, diese Reform mit einem Schulfrieden zu verbinden. Wir haben versprochen, über zehn Jahre keine strukturellen Reformen am System mehr vorzunehmen. Und ich finde, an Versprechen muss man sich halten. Das sage ich, obwohl ich selbst nie ein Befürworter der verkürzten Schulzeit war.

Inwiefern machen Ihnen die Volksinitiativen das Regieren schwierig?

Scholz:

Überhaupt nicht. Ich bin ein Anhänger von Volksentscheiden. Und man kann nur für Volksentscheide und direkte Demokratie sein, wenn man nicht schon in dem Moment seine Haltung ändert, in dem jemand einen Vorschlag macht und dabei das Wort „Volksentscheid“ in den Mund nimmt. Man sollte sich nicht fürchten. Beim wichtigen Thema Wohnungsbau zum Beispiel gab es an der einen oder anderen Stelle auch kritische Initiativen. Das hat uns aber nicht daran gehindert, unseren Kurs beizubehalten. Ende des Jahres werden wir wohl den Bau von 10.000 neuen Wohnungen genehmigt haben.

Vor uns liegen Wahljahre mit Bezirksversammlungswahlen 2014 und Bürgerschaftswahl 2015. Haben Sie eine Vision für Hamburg abseits der Tagespolitik?

Scholz:

Es ist mir ein großes Anliegen, dass wir die Endzeitstimmung überwinden. Viele denken, dass Hamburg fertig gebaut ist und man so richtig viel Neues nicht mehr machen kann. Tatsächlich sind wir eine wachsende Stadt. Seit 1990 hat Hamburg rund 200.000 neue Einwohner bekommen. Dieses Wachstum, die Anziehungskraft der Stadt ist eine Chance. Wir wollen sie nutzen, und dafür hat – neben der Frage von Wohnungsbau und dem ausreichenden Angebot von Kitas – die Verkehrspolitik eine große Bedeutung.

Was planen Sie auf dem Gebiet?

Scholz:

In diesem Jahrzehnt wird die Verlängerung der U4 mit dem Anschluss an die S-Bahn an den Elbbrücken fertiggestellt. Wir arbeiten an der Verlängerung der S4 nach Bad Oldesloe, eine S21 auf der AKN-Strecke wird geprüft. Wir müssen in der Verkehrspolitik heute das planen, was wir in den 20er- und 30er-Jahren dieses Jahrhunderts tun wollen. Wir sollten von der kleinlichen Haltung der letzten Jahrzehnte Abstand nehmen, dass man in Hamburg keine S-Bahnen und keine U-Bahnen mehr bauen kann. Wir sollten mutig sein und uns auf ein Konzept verständigen, wie die Hochbahn vor 100 Jahren, als sie einen Bahnring baute. Wir sollten uns wieder große Verkehrsprojekte zutrauen und sie langfristig vorbereiten.

Wann müssen diese Projekte angegangen werden?

Scholz:

Sie müssen so vorbereitet werden, dass wir eine Vorstellung für die Jahre 2035 oder 2040 haben. Das heißt: Es muss jetzt geplant werden. Und es muss schon Ende dieses und Anfang des nächsten Jahrzehnts damit angefangen werden, Teile davon umzusetzen. Diese langfristige Perspektive und diesen Optimismus für die Zukunft brauchen wir. Und ich hoffe, dass dieser Optimismus in der Stadt weiter spürbar ist, sodass wir auch etwas Großes wagen können.

Wohin sollen denn die neuen S- und U-Bahnen führen?

Scholz:

Es gibt viele Stadtteile, die besser angebunden sein könnten. Die U4 etwa ist bewusst so angelegt worden, dass man sie auch über die Elbe und über Wilhelmsburg in den Süden weiterführen kann. Solche langfristigen Planungen stelle ich mir auch etwa für Lurup und den Osdorfer Born vor. Das betrifft Steilshoop, sicherlich auch Bergedorf sowie den Südosten der Stadt.

Schließt das eine Straßenbahn aus?

Scholz:

Man muss sich überlegen, was in den 20er- und 30er-Jahren wichtig sein wird. Dann kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass man besonders leistungsfähige Verkehrsträger für eine weit ausgedehnte Stadt braucht. Und zu denen gehört eine Straßenbahn nicht.

Zur Bundespolitik. Sigmar Gabriel hat der SPD trotz herber Wahlniederlage einen Koalitionsvertrag mit stark sozialdemokratischer Handschrift und sechs Ministerposten beschert, mehr als der CDU. Was war der entscheidende Grund?

Scholz:

Zunächst ist das, was Sie schildern, ein großer Erfolg für die SPD und ihren Vorsitzenden. Wichtig war, dass wir mit unseren politischen Vorstellungen die meisten Bürgerinnen und Bürger immer auf unserer Seite hatten. Wir hatten nach der Wahl ja eine paradoxe Situation: Viele, die eine andere Partei gewählt haben, haben sich gleichzeitig gewünscht, die SPD würde sich mit ihren inhaltlichen Forderungen durchsetzen. So ist es jetzt auch ausgegangen.

Der SPD-Mitgliederentscheid war ein gutes Druckmittel, um der Union Zugeständnisse abzutrotzen. Wird er Schule machen?

Scholz:

Dass sich fast 400.000 SPD-Mitglieder beteiligt haben, ist ein Erfolg. Das wird dazu beitragen, dass auch andere Parteien darüber nachdenken, ob sie sich bei wichtigen Fragen auf diese Weise Klarheit über den Rückhalt ihrer Mitglieder verschaffen sollen.

Können Sie sich auch für Hamburg vorstellen, dass die SPD nach Koalitionsverhandlungen ihre Mitglieder befragt?

Scholz:

Das könnten wir tun. Aber ob es überhaupt Koalitionsverhandlungen gibt, weiß man immer erst nach der Wahl. Nach der letzten war es nicht so.