Auf den ersten Blick ist es eine Buchvorstellung wie andere auch, zu der die Grünen-Bürgerschaftsfraktion am Montag in den Kaisersaal des Rathauses einlädt. Auf den zweiten Blick überraschen Thema und Teilnehmer. Der Grünen-Vordenker und frühere Bremer Umweltsenator Ralf Fücks präsentiert sein Buch „Intelligent wachsen – Die grüne Revolution“. Darin schreibt der Autor Sätze, die für die Öko-Partei sehr erstaunlich sind: „Nullwachstum in Europa ist nicht die Antwort auf das stürmische ökonomische Wachstum im großen Rest der Welt.“ Oder: „Wenn die Ökologie als Anti-Wachstums-Politik daherkommt, hat sie schon verloren.“ Statt „Small is beautiful“ und dem Bekenntnis zu den „Grenzen des Wachstums“– den an der Basis noch recht populären Leitmelodien der ersten und zweiten Generation grüner Politiker – soll nun wirtschaftliches, gerade auch industrielles Wachstum schön sein?

Fücks meint es offensichtlich ernst. „Statt gegen Wachstum per se anzureiten wie Don Quichotte gegen Windmühlenflügel, müssen wir die Art des Wachstums verändern“, schreibt der Ex-Senator den eigenen Leuten ins Stammbuch. Zwischen Wirtschaftswachstum und Lebensqualität bestehe nach wie vor ein Zusammenhang. Bei Fücks kommt, man ahnt es, der Strom nicht einfach aus der Steckdose.

Bei seinen Hamburger Parteifreunden sind Fücks’ Thesen auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Die Grünen sind dabei, sich auf neues politisches Terrain zu wagen und eines ihrer letzten Tabus zu brechen: Der Hafen mit seinem immensen Ressourcenverbrauch und die großen, energieintensiven Industrieunternehmen wurden früher ignoriert oder galten als Feindbilder grüner Politik. Und nun? „Wir müssen aus den Lagern herauskommen“, sagt Anja Hajduk, stellvertretende Fraktionschefin und Finanzexpertin. „Wir wollen Industriepolitik gestalten und nicht als Gegner auftreten.“

Tjarks hatte zwei Vorschläge zur Senkung des Stromverbrauchs dabei

Wie die neue grüne Politik aussehen kann, macht Anjes Tjarks, wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion, vor. Der 32 Jahre alte Lehrer hat gerade den größten Stromverbraucher der Stadt besucht: die Trimet-Aluminiumwerke in Altenwerder, gewissermaßen der Gottseibeiuns nachhaltiger Energiepolitik. Tjarks hatte zwei Vorschläge zur Senkung des Stromverbrauchs im Gepäck, um den Schwankungen bei der Erzeugung regenerativer Energien zu begegnen, auf deren Ausbau die Grünen selbstverständlich weiter setzen.

Ein Weg, so der Grüne, sei ein lokaler Zwischenspeicher beim Alu-Werk, ein anderer das „virtuelle Kraftwerk“. Dabei richten große industrielle Stromverbraucher wie eben Trimet ihre Produktionszeiten zumindest teilweise danach, wann reichlich Strom vorhanden ist. Tjarks kann sich finanzielle Anreize beim Strompreis für die Unternehmen vorstellen, die sich daran beteiligen. „Es gab eine klar erkennbare Bereitschaft, darüber mit uns zu reden“, sagt Tjarks nach einem Gespräch mit Trimet-Vorstandschef Martin Iffert. Dass der Strompreis für Unternehmen wie Trimet oder die Kupferhütte Aurubis und ArcelorMittal (die früheren Hamburger Stahlwerke) ohnehin schon subventioniert wird, finden Tjarks und Hajduk nicht mehr verwerflich. Die Betriebe seien auf eine günstige Kostenstruktur angewiesen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, heißt es nun ganz marktwirtschaftlich. Da muss man sich schon ein bisschen die Augen reiben, wenn man bedenkt, wie die Grünen einmal angefangen haben. Vielleicht ist es ein wenig unfair, an die ganz frühen Aktionen zivilen Ungehorsams zu erinnern, bei denen die Grenze zur Straftat überschritten wurde: Im Dezember 1986 kletterten Bürgerschaftsabgeordnete der GAL, wie sie damals noch hieß, über den Zaun des HHLA-Terminals am Burchardkai. Sie suchten und fanden Waffen, die nach Südafrika verschifft werden sollten. Gegen den Apartheid-Staat lief damals ein Waffen-Embargo.

Zu Zeiten der rot-grünen Rathaus-Koalition von 1997 bis 2001 gab es eine klare Aufgabenverteilung: Der Hafen „gehörte“ der SPD, da mischte sich die GAL nicht ein. So setzte die SPD die damalige Elbvertiefung und die Airbus-Werkserweiterung im Koalitionsvertrag durch, obwohl die GAL eigentlich gegen beide Projekte war. Und noch das grüne Leitbild der „Kreativen Stadt“ Mitte des vergangenen Jahrzehnts blendete jedenfalls die Grundstoffindustrie ganz aus und setzte auf Wachstumspotenziale im IT-Bereich, in Kunst und Wissenschaft. Nun wäre es ziemlich falsch zu behaupten, die Grünen seien auf dem Weg, eine Partei der Industrie und des Großkapitals zu werden. Dass sie immer noch gut gegen „die da oben“ wettern können, zeigt der Streit um den Rückkauf der Energienetze. Das Bündnis von Kammern, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften (!), das sich gegen die Rekommunalisierung gegründet hat, nannte Grünen-Fraktionschef Jens Kerstan am Freitag in bester Klassenkampf-Manier „einen Schulterschluss der Wirtschaftsbosse gegen das Volk“.

Tjarks geht beim Industrieverband ein und aus und hat dort ein „hohes Gesprächsbedürfnis mit den Grünen“ festgestellt. Dass der Hafen ein wichtiger Faktor für die Wohlstandsentwicklung der Stadt ist, räumen die Grünen heute ein und wollen sich diesem einst ungeliebten Thema widmen. „Wie können wir den Hafen ökonomisch und ökologisch zukunftsfähig machen?“, gibt Hajduk die zentrale Frage vor. Tjarks bereitet für 2014 einen Hafenkongress vor, auf dem die Grünen Konzepte für dessen wirtschaftliche Zukunft vorlegen wollen. „HHLA-Vorstandschef Peters hat gesagt, dass er keinen Plan B habe, falls das Bundesverwaltungsgericht die Elbvertiefung abschmettert. Das ist zu wenig für einen Vorstandschef“, sagt Tjarks. Die Grünen würden eine „ökonomische Vision“ formulieren, die mit und ohne Elbvertiefung funktioniere.

Einen dürfte das neue grüne Denken sehr freuen: Bürgermeister Olaf Scholz. Der Sozialdemokrat setzt stark auf die industrielle Basis der Stadt und ist ein großer Befürworter des technischen Umweltschutzes. Die Grünen dürften Scholz in der Wirtschaftspolitik kaum je näher gewesen sein als jetzt – trotz des erbitterten Streits über den Netze-Rückkauf. Wie zu hören ist, hat der Bürgermeister das Fücks-Buch mit großem Interesse gelesen und mit Freuden zugesagt: Am Montag diskutiert er zusammen mit Hajduk und dem Autor dessen Thesen im Kaisersaal.