Bei Lidl, Penny und Co. wurde an den Wochenenden das große Geschäft gemacht. 2010 ist es damit vorbei - sehr zum Ärger der Kunden.

Hamburg. Welch schöne Bescherung und eines jeden Kaufmanns Traum: Schon vor Ladenöffnung ballen sich Kunden in Scharen vor dem Eingangstor. Sie strömen hinein, sobald sich die Schiebetür öffnet. Besonders wundersam wirkt dieses Szenario, wenn gar keine außerordentlichen Sonderangebote als Lockvögel dienen; denn das Silvestersortiment wird erst von morgen an feilgeboten. Süßer die Kassen selten klingeln ...

So wie gestern bei Lidl auf der Reeperbahn. Die Parkplätze in der Seitenstraße sind schon um 9.45 Uhr restlos vergeben. Und um kurz vor 10 Uhr stehen 70 Käufer Schlange, um Minuten später die Regale zu stürmen. Vier Kassiererinnen an ebenso vielen Kassen haben alle Hände voll zu tun, dem Andrang Herr zu werden. Ob der zurückliegenden Weihnachtstage ist der Zuspruch noch größer als sonst schon.

Am Ausgang liegende Flugblätter jedoch mahnen, dass bald Schluss ist mit dem sonntäglichen Einkaufsvergnügen. "Die Freie und Hansestadt Hamburg hat ab 1. Januar 2010 auf der Reeperbahn die Sonntagsöffnung für Lebensmittelmärkte zurückgenommen", steht in großen Lettern darauf. Die meisten Kunden lassen die Infozettel links liegen.

"Das gibt's doch gar nicht", entgegnet Floris Jungbluth aus Eimsbüttel irritiert, als er auf die veränderten Bedingungen aufmerksam gemacht wird. Einkaufen an Sonn- und Feiertagen gehöre für ihn und Lebensgefährtin Nicola zur Lebensqualität in einer Großstadt. "In New York kann man seine Besorgungen an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr erledigen - ein bisschen sollte das auch bei uns so sein", murrt er, steuert seinen Kombi auf dem Standstreifen an und verlädt vier prall gefüllte Plastiktüten im Kofferraum.

Christine Licht sieht die Situation ähnlich. Die Bauchtänzerin mit dem Künstlernamen "Madame 1000 & 1 Volt" hat ihren Einkaufswagen auf Rädern mitgebracht, im Volksmund "Hackenporsche" genannt. "Shoppen wann man will, das ist auch ein Stück Freiheit", meint sie. Gerade diese etwas andere Lebensart präge das Flair des Kiezes. Sie selbst habe gar keine ausgefallenen Artikel auf der Liste stehen, sondern decke sich für den normalen Wochenbedarf ein. "Ich finde es ungerecht, wenn dieser Service eingestellt wird", sagt sie und geht davon.

Auch andere werden sich umstellen müssen. So wie das Ehepaar aus Wandsbek, das mit seinen zwei Kindern Richtung Reeperbahn kommt. "Immer gerne", sagt die Frau, "für uns ist das ein kleiner Ausflug." Zwar zählen klassische Familien an diesem in jeder Beziehung letzten Dezembersonntag zu den Ausnahmeerscheinungen an Lidls Kassen, doch besteht die Kundschaft zu relativ früher Stunde wahrlich nicht nur aus Paradiesvögeln, Bordsteinschwalben und Gestrauchelten der Nacht. Auch wenn vor der Tür drei Punker schnorren ("Hast' mal nen Euro?") und wilde Geschichten erzählen von Schluckspechten, die sich stehend an der "Spirituosen-Bar" drinnen bedienen und die Kasse mit einer Flasche Mineralwasser passieren. Auch schräg gegenüber, bei Penny, gehörten diese Diebstähle zum Alltag.

Den wissbegierigen Zaungast draußen vor der Tür verblüfft auch sonst, was die Leute an einem solchen Morgen alles nach Hause mitnehmen. Mancher verlässt den Discounter nur mit einer Sonntagszeitung, andere stehen nur für eine Portion Toast oder ein Netz Kartoffeln Schlange. Zwei junge Männer rollen sage und hiermit schreibe vier Paletten mit pfundigen Zuckerpackungen an ihr Auto. Eine junge Dame hat gut und gerne 20 Pappboxen mit Bioeiern in ihren Drahtwagen gestapelt, und ein Mann schiebt mit Dutzenden Dosen mit geschälten Tomaten von dannen? Ein Pizzabäcker? Auskunft will er nicht geben. Muss er ja auch nicht ...

Auch kurz vor 12 Uhr hält der Zustrom unvermindert an. Einige Kunden scheinen das und sich zu kennen. Mit Milchkaffee im Pappbecher von Café Möller gegenüber bewaffnet, wird vor dem Lidl-Eingang Klönschnack gehalten. Besucher des Fischmarkts kommen, Pflanzen oder Mandarinenkisten unter den Armen. Offensichtlich bewährt sich die Arbeitsteilung: Die einen warten draußen und bewachen die Beutestücke des Markts, andere organisieren drinnen Nachschub. Dass damit vom 1. Januar 2010 an Schluss ist, ahnt kaum jemand. Ein Profi jedoch weiß Bescheid: Bei Lidl am Bahnhof Altona gilt die sonntägliche Ausnahmeregelung nach wie vor.