Abenteuer im Kopf: Wie Kinder lesen und schreiben lernen, Teil II - heute mit Postern und viel Bewegung in der Rudolf-Roß-Grundschule.

Neustadt. "Drei Finger schreiben, aber der ganze Körper arbeitet." Dieser Stoßseufzer eines Mönchs aus dem siebten Jahrhundert wurde durch die Zeiten getragen. Doch was damals nur die Eingeweihten konnten, lernt heute bei uns jedes Kind. Aber wer glaubt, das Schreibenlernen sei noch immer eine körperlich beschwerliche Angelegenheit, der irrt.

Vor der Tafel der Klasse 1a von Annette Hohlfeld, 47, Lehrerin an der Rudolf-Roß-Grundschule Hamburg, liegt die Kuschelraupe Myrtel auf ihrem Schlafblatt und schaut die Kinder an. Hinter ihr hocken auf beiden Tafelflügeln Eule Mira und Vogel Bo. Zusammen mit den Erstklässern ist Myrtel in der letzten Woche eingeschult worden und lernt im Zauberwald das Buchstabieren. Heute ist das "B" dran.

Die Abc-Schützen sitzen im Halbkreis um die Pädagogin und legen Dinge in die Mitte, die mit "B" beginnen und die sie Myrtel mitgebracht haben. Myrtel darf sich über einen Ball freuen, einen Bumerang, ein Bild und viele, viele Brillen, genauer Sonnenbrillen. "Kinder wollen heute ,cool' sein", sagt Lehrerin Hohlfeld, "aber auch die coolsten Jungs mögen Myrtel und den Zauberwald." Danach malen die Kinder mit dem Finger ein "B" in die Luft: "Langer Strich nach unten, Bogen für Bogen, dann sieht es aus, als wäre ein Vogel geflogen", klären sie im Chor die Raupe begeistert auf. Sie malen das "B" auch auf den Rücken ihres Nachbarn, in den Sand und formen es aus Knete. Nie wurden mit mehr Hingabe viele "B" gemacht. Mit einem Stift aber haben die Erstklässer noch nicht geschrieben. Annette Hohlfeld klärt auf: "Die Motorik muss zuerst geschult werden, deswegen muss man viele Vorübungen machen. Die Buchstaben werden immer kleiner, je besser die Kinder ihre Bewegungen beherrschen lernen. Das richtige Schreiben kommt zum Schluss."

In Klasse 1d von Ursula Heuer-McKinney, 54, singt Myrtel das "Ping Pong"-Lied, und die Kinder wedeln dazu mit ihren Armen Bögen in die Luft. Die gleichen Halbkreise übertragen sie anschließend auf Papier als "Regenbögen", als erste Schreibelemente. "Schwungübung" nennt man das unter Pädagogen. Für die Kinder, die besonders schnell lernen, hat Eule Mira alle Buchstaben auf einem Poster gesammelt - zusammen mit dem Bild eines Tieres, das mit dem gleichen Laut beginnt. Anhand dieser sogenannten "Anlauttabelle" können Kinder Schriftbild und Buchstabenklang miteinander in Verbindung bringen und so Wörter selbst zusammensetzen. Die Buchstaben können sie dann abschreiben; Lesen und Schreiben werden so gemeinsam vermittelt.

Doris Gercke ist eine große Verfechterin der Schreibschrift

Die Methode, ein Wort aus seinen einzelnen Buchstaben-Bestandteilen aufzubauen, um es lesen und schreiben zu können, ist aber nicht die einzig mögliche. "Oft kommt es vor, dass Kinder bereits vor Schulbeginn ihren Namen schreiben können, weil sie sich das Aussehen des Wortes eingeprägt haben", sagt Heinz Grasmück, Fachreferent für Deutsch und Kunst am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg. Kinder, die "logographematisch" schreiben, sind also in der Lage, ein Wort abzumalen und es mit einer Bedeutung zu verbinden, obwohl sie die einzelnen Buchstaben erst später unterscheiden lernen. Schüler können demnach auch dazu angeleitet werden, Wortbilder zu malen. Untersuchungen haben aber ergeben, dass beide Methoden gleich erfolgreich sind.

"Heute haben beide Zugänge ihr Recht und werden ineinander entwickelt", sagt Grasmück. Wichtig ist ihm, dass Kinder Schreiben, eingebettet in einen Sinnzusammenhang, erleben. Eine dritte Schreiblernmethode stellt deswegen den kommunikativen Aspekt des Schreibens im Anfangsunterricht stärker in den Vordergrund und ermutigt die Schreibanfänger zu schreiben, noch bevor sie es können. Das Ergebnis sind dann "Kritzelbriefe", ein Gekrakel, das entfernt an Buchstaben erinnert und auf Postkarten oder in Briefe eingetragen wird.

Teil I der Serie: Sie können es kaum erwarten: Endlich lesen!

Wird so in Grundschulen auch nicht mehr unterrichtet, kann man das Phänomen doch in Vorschulen und Kindergärten gut beobachten, ohne dass die Kleinen dazu angeleitet werden. Betgen Hag, 47, pädagogische Fachberaterin der Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten, sagt: "Kinder setzen sich gerne mit ihrer Umwelt auseinander und möchten kompetent werden in den Bereichen, die sie bei Erwachsenen erleben. Kritzelnd zu schreiben ist eine Variante ihrer Weltaneignung." Wie auch immer Kinder schreiben lernen, wichtig sei, darin sind sich die Experten einig, dass die Schüler mit Spaß bei der Sache sind.

In der Dienstag-Ausgabe lesen Sie ein Gespräch einer jungen Grundschullehrerin mit einer sehr erfahrenen - über Unterricht damals und heute.

Wenn die Kinder zur Schule kommen, dann ist das auch für die Eltern eine große Umstellung. Und es stellen sich eine Menge Fragen: Soll ich meinem Kind helfen? Und wie? Ist es sinnvoll, ihm Schreibschrift beizubringen, wenn in der Schule die Grundschrift gelehrt wird?

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