Jeder zehnte Rentner erhält heute bereits staatliche Hilfe. Die 72-jährige Helga Barton war lange berufstätig. Jetzt bleiben ihr 7 Euro pro Tag.

Hamburg. Sie hat Sarotti-Schokolade gekauft. Vier Tafeln liegen im Kühlschrank. Daneben eine Dose Seelachs, ein Päckchen Quark mit Gurke und Meerrettich, ein Pfund Butter und eine Flasche Beck's Lemon. Die hat sich Helga Barton aufbewahrt vom Schlagermove. Von ihrem Balkon aus hat sie die Parade am Sonnabend angeschaut. Sie hat sich einen Stuhl herausgestellt und ein Bier geöffnet. Die alte Dame hatte für diesen Moment das Gefühl, mittendrin zu sein.

Jetzt sitzt sie allein an ihrem quadratischen Tisch im Wohnzimmer ihrer Zweizimmerwohnung, Küche, Bad ohne Fenster. Sie schaut über die leeren Blumenkästen hinweg auf die Elbe. Sie sieht die Barkassen der Hafenrundfahrten und dahinter die glitzernde Fassade der Elbphilharmonie. Dann greift sie in die Schublade der Anrichte, Mahagoni, furniert. Sie nimmt einen Kontoauszug heraus. Der Monat hat gerade angefangen. Und Helga Barton hat Rente bekommen. 690,78 Euro plus 91 Euro Wohngeld. Die Miete von 442,77 Euro hat sie bereits überwiesen. Auch Strom und Wasser sind bezahlt. Jetzt liegen noch 200 Euro auf dem Konto. Das muss bis zum Monatsende reichen, rund sieben Euro pro Tag.

Helga Barton ist 72 Jahre alt. Sie ist arm, auch wenn sie sich nicht so fühlt.

Sie ist einer von 17 644 Menschen im Alter von mindestens 65 Jahren, die in Hamburg staatliche Leistungen zur Grundsicherung erhalten. 2005 waren es noch 13 600 Hamburger, die Unterstützung in einer Höhe von 351 Euro (heute sind es 359 Euro) sowie zusätzliche finanzielle Leistungen für Altersmehrbedarf und Mietzuschüsse bekamen. 2010 waren es bereits 16 783.

Insgesamt lebt rund jeder zehnte Rentner in Hamburg von Grundsicherung. Das sind genau 30 028 Personen, darunter fast 13 000 Rentner, die jünger als 65 Jahre alt sind. Menschen, von denen viele ihr Leben lang gearbeitet haben. Jetzt sitzen sie in der Falle. In der "Armutsfalle", wie Diakoniesprecher Steffen Becker sie nennt. "Altersarmut ist in der Regel lebenslange Armut. Sie dauert bis zum Tode an."

Das Problem der Altersarmut wachse, weil der Niedriglohnsektor sich ausweite und die Sozialleistungen wie Hartz IV keine ausreichenden Rentenansprüche bewirkten, sagt Becker. "Die Leute sind immer mehr darauf angewiesen, private Vorsorge zur Rente zu machen. Das können sich viele nicht leisten, weil das Gehalt zu gering ist, um etwas für das Alter zurückzulegen."

Gespart hat Helga Barton immer. Mit 16 arbeitet sie in einer Perforierfirma in Eppendorf als Lichtpauserin. Sie hat viel mit Ammoniak zu tun. Als sie zwei Jahre später mit Sohn Bernhard schwanger wird, kündigt sie den Job.

Sie bekommt einen zweiten Sohn, Robert, heiratet, kümmert sich tagsüber um die Kinder und geht abends, wenn ihr Mann Gerhard von der Arbeit kommt, putzen. Manchmal nimmt sie die Jungs mit. Sie dürfen die Papierkörbe in den Büros lehren. Ihre Arbeitgeber sind Arztpraxen, Banken, große Hamburger Unternehmen. Sie wischt Staub weg, wo das große Geld gemacht wird. Die Lappen nimmt sie mit nach Hause zum Waschen. Als die Kinder groß sind, bekommt sie eine feste Anstellung in einer Winterhuder Reinigung. Von 7 bis 17 Uhr sortiert sie Wäsche, mangelt, schnürt Pakete. 17 Jahre lang. Anfang der 90er-Jahre trennt sie sich von ihrem Mann. Sie verliert ihren Job und beantragt Sozialhilfe. Am 19. Januar 1998 bezieht sie eine Saga-Wohnung an der Bernhard-Nocht-Straße. Ihre letzten Ersparnisse gibt sie für eine neue Couchgarnitur aus. Ihre HVV-Karte kündigt sie.

Von Altersarmut betroffen sind vor allem alleinstehende ältere Frauen. Sie machen in Hamburg 59 Prozent der Grundsicherungsempfänger aus.

"Die meisten von ihnen haben zwar gearbeitet, sie haben aber auch Auszeiten vom Job genommen, Kinder geboren und großgezogen, den Haushalt geführt. Am Ende aber kommt bei diesen Frauen eine Rente raus, von der sie nicht leben können", sagt Hanna Blase. Sie ist 55 Jahre alt, Sozialarbeiterin und leitet seit 20 Jahren den Seniorentreff St. Pauli. 70 Besucher kommen täglich in das Backsteingebäude an der Silbersackstraße. Sie kommen, um zu plaudern, Skat zu spielen oder Rommykup. Sie trinken Kaffee, machen Ausfahrten, und manchmal kochen sie auch gemeinsam. Nachmittags füllen sie ihre Einkaufstaschen mit Lebensmitteln von der Hamburger Tafel. Die gibt es kostenlos. "Nur so komme ich finanziell über die Runden", verrät Helga Barton. Nur so könne sie sogar etwas zurücklegen für ihre Hündin Susi, die nur Putenfleisch vom Versand Dinner for Dog mag. Und für den alten Computer, der dringend repariert werden muss.

Helga Barton geht regelmäßig zum Seniorentreff. In einem Stadtteil, in dem laut Statistikamt Nord jeder fünfte Einwohner über 65 Jahre auf staatlichen Unterhalt angewiesen ist. Ende 2009 betrug ihr Anteil 21 Prozent, gefolgt von den Stadtteilen Sternschanze (17 Prozent) und Jenfeld (14 Prozent).

In diesen Stadtteilen gibt es Einrichtungen der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Seniorentreffs, die Geselligkeit und Kultur anbieten für alte Menschen, die "sonst nichts mehr haben", sagt Geschäftsführer Michael Edele. Etwa 80 solcher Treffs gibt es in Hamburg. Viele von ihnen sind laut Edele von Schließung oder Kürzung der Öffnungszeiten bedroht. "Dabei sind die Treffs für viele alte Menschen der einzige Ort, an dem sie nicht allein sind", sagt Edele. Hier könnten sie offen mit ihren Probleme umgehen. Dazu gehört auch das Thema Schulden. Denn die Zahl der Senioren, die ihre Schulden nicht abzahlen können, steigt an. Cordula Koning von der Schuldnerberatung des Diakonischen Werks Hamburg sagt: "13 Prozent unserer Besucher sind über 60 Jahre alt. Sie haben oft Renten zwischen 600 und 900 Euro und können Kredite nicht mehr abzahlen."

Helga Barton hat aus der Silbersackstraße ein paar frische Lebensmittel mitgebracht. Ein paar Scheiben Brot, die sie zum Abendessen mit künstlichem Seelachs belegt. Die Schokolade im Kühlschrank will sie am Sonntag beim Kindergottesdienst verteilen. Auf dem Balkon stehen drei Plastiktüten mit Pfandflaschen. Die hat sie nach dem Schlagermove von der Straße gesammelt. Am Dienstag wollte sie diese zum Supermarkt bringen, um sich "das Taschengeld aufzubessern". Der Marktleiter warf die alte Dame wegen der Menge kurzerhand hinaus.