Die SPD kann sich kaum auf alte Traditionswähler verlassen. Die Partei sieht sich unberechenbaren Wechsel- oder Nichtwählern gegenüber.

St. Pauli. "Ich versuche allen, die im Stadtteil leben, gerecht zu werden", sagt Andy Grote. Ein mutiger Satz, wenn man an die extreme Gemischtheit denkt, die auf engem Raum im Stadtteil St. Pauli herrscht. Das Allen-gerecht-Werden "gelingt kaum", räumt Grote denn auch ein. "Denn die Auffassungen, was das echte St. Pauli ist und wann genau der Zeitpunkt war, an dem es hätte so bleiben sollen, gehen extrem weit auseinander."

Während CDU-Kandidaten in Lurup mit Bungeesprüngen um Wähler werben und die Linke in Altona erklärt, wie sie den Kapitalismus überwinden will, hat SPD-Wahlkreiskandidat Grote zum Nachbarschaftsgespräch geladen: "Welches St. Pauli wollen wir?" In der Kneipe Weiße Maus an der Ecke Tauben- und Hopfenstraße brummt es, mehr als 30 Leute drängen sich unter der lila Decke: Anwohner, Initiativenleute, eine Klubkulturschaffende, eine Stadtteilführerin, schweigsame Rentner, St.-Pauli-Fans in Kapuzenshirts. Einige kennen sich schon.

Grote entwirft eine Momentaufnahme. St. Pauli, das sind verschiedene Lebensentwürfe, Generationen, kulturelle Hintergründe, Arbeitswelten, sagt er. Wer woanders nicht erwünscht war, hat hier einen Platz gefunden. Das ist eine Qualität. Aber die Zahl der Eigentumswohnungen nimmt zu, während der Bestand der Sozialwohnungen seit zehn Jahren kontinuierlich zurückgeht - um rund zehn Prozent - und viele Sozialmietbindungen auslaufen. "Wir bekommen eine andere Bevölkerungsstruktur. Dadurch ist gefährdet, was St. Pauli immer ausgemacht hat."

Und nun stellen sich Fragen: Wer ist hier willkommen? Sollen Leute mit höheren Einkommen hier nicht herziehen? Ist es gut oder schlecht, wenn auch Büros entstehen? Welche Kultur ist uns wichtig, die Touristenmagnete wie das Operettenhaus oder die Musikklubs oder das St.-Pauli-Museum?

Auf Wortmeldungen muss Grote keine drei Sekunden warten. Eine blonde Frau neben der Tür macht ihrem Ärger über die hohen Auflagen Luft, die Klubs und Gastronomen erfüllen müssten, "härter als in Eppendorf!" Die Behörden mäßen mit zweierlei Maß, kritisiert ein Mann: Großevents würden offenbar reibungslos genehmigt, "aber wenn der Pudel Club ein Open Air machen will, wird wegen Lärmschutz abgewinkt". Man ist sich einig: Penner und Bettler seien kein Problem, viel schlimmer seien "die Leute vom Schlagermove. Kotzen überall hin und poppen in den Parklücken."

Während Grote, der in der Talstraße wohnt, eher die inflationären Junggesellenabschiede verzichtbar findet, pikst ein selbst ernannter "Karnevalist" dazwischen: "Welche Politiker wünschen wir uns denn auf St. Pauli?" Die Entwicklung zu mehr Eigentumswohnungen sei doch keine CDU-Politik, meint er, sondern "mit oder unter der SPD entstanden. Da fehlt mir die Haltung." Und eine Frau fragt provokant: "Gibt es eine Möglichkeit, Markus Schreiber abzuwählen?" Der Bezirksamtsleiter, SPD, hat sich mit einigen Ordnungsvorstößen auf dem Kiez unbeliebt gemacht.

+++ Andy Grote unterwegs auf St. Pauli +++

Nach Haltung müsse man bei ihm nicht suchen, erwidert Grote. Es sei gelungen, in den Neubauten des BavariaGeländes einen hohen Anteil von Genossenschaftswohnungen durchzusetzen. "Das sind nicht die günstigsten, aber es war richtig." Und Grote berichtet von der geplanten "Sozialen Erhaltungsverordnung", mit der verhindert werden könne, dass auf St. Pauli Luxussanierungen und Wohnungsumwandlungen um sich greifen. Mehr als 40 Prozent erhofft sich der 42-Jährige am übernächsten Sonntag für die SPD. Bei der vorigen Bürgerschaftswahl 2008 erreichte sie im Wahlkreis Mitte 38,4 Prozent auf der Landesliste, immerhin rund vier Prozent mehr als bei der historischen Schlappe 2004, als die SPD nur 32,6 Prozent und damit zum ersten Mal in der Geschichte weniger einfuhr als die CDU (39,4). Das war ein Tiefpunkt für das rote St. Pauli, wo in den 1960er-Jahren noch 60 Prozent sozialdemokratisch wählten.

Aber die SPD selbst steht für den Wandel im Stadtteil und Grote für den Wandel in der SPD. 1996 trat er während des Jurastudiums in die Partei ein und wurde Assistent des langjährigen Bürgerschaftsabgeordneten und Fraktionsvize Ingo Kleist. Das war ein SPD-Mann von altem Schrot und Korn, gelernter Handelsgehilfe, zur See gefahren, Beamter bei der Wasserschutzpolizei, aktiver Gewerkschafter und engagiert für Kleingärten. "Kleist kannte St. Pauli, als es noch von Hafenarbeitern geprägt war und die SPD hier 900 Mitglieder hatte", sagt Grote. "Ich habe an ihm seine Geradlinigkeit und seine enorme Erfahrung geschätzt. Er hat niemandem nach dem Munde geredet."

Heute hat die SPD auf St. Pauli noch 300 Mitglieder, die Wahlbeteiligung in Mitte ist die niedrigste aller Hamburger Bezirke. Und die junge, smarte Juristengeneration in der SPD, für die auch der Rechtsanwalt Grote steht, kann sich kaum auf alte Traditionswähler verlassen. Jetzt sieht sie sich den unberechenbaren Wechsel- oder Nichtwählern gegenüber, die die SPD mal rechts und mal links überholen.

Und die lassen sich nicht verwalten, die organisieren sich ganz munter auch allein. In Bürgerinitiativen wie NoBNQ an der Bernhard-Nocht-Straße oder der Initiative Esso-Häuser, die beide für bezahlbare Bestandswohnungen kämpfen. Oder in Gruppen, die selbsttätig Unterschriftenlisten beim Bezirk einreichen. Oder sie rücken den Politikern auf abgeordnetenwatch.de mit unbequemen Fragen auf die Pelle. "Hallo Herr Grote, noch mal nachgefragt", schreibt da ein Herr Heeder, "Die Linke fordert 8000 Wohnungen, die auch bezahlbar sind!!! Was fordert die SPD??" Andy Grote hat ihm geantwortet, dass die 6000 neuen Wohnungen jährlich, die die SPD in ihrem Wahlprogramm fordert, unbedingt nötig seien, dass die Zahlen beim öffentlich geförderten Wohnungsbau auf 2400 verdoppelt und dass die Neubautätigkeit der Saga auf 1000 Wohnungen pro Jahr gesteigert werden müssten.

An den Tischen der Weißen Maus ist jeder gegen Kommerzialisierung in der Miet- und Stadtteilpolitik. Mit Atlantikhaus und Tanzenden Türmen könne man leben, wenn es nur genügend Platz für Klubs und Kneipen, alternative Friseure, Käseläden, Fahrradläden und Mieten unter 8 Euro gibt.

Und vor allem: Mitsprache. Daran hapert es noch. Die IG St. Pauli, ein Zusammenschluss von Gewerbetreibenden, stehe nur für "Rollator, Bier und Würstchen, und der Bürgerverein ist total überaltert", befindet eine Frau. Grote nickt: "Wir brauchen eine neue Beteiligungskultur." Das könne eine Stadtteilkonferenz wie etwa in St. Georg oder auf der Veddel sein, schlägt er vor.

Das Wohngebiet, wissen Soziologen, ist überall ein Ort der Identifikation geworden. Die St. Paulianer neuen Typs sind wach, kritisch, preisbewusst und eisern entschlossen, die Besonderheiten ihres Quartiers zu verteidigen. Das merkt sogar der FC St. Pauli, wo Grote seit 2005 Mitglied ist. Lautstark melden sich die Fans auch hier gegen Kommerzialisierung zu Wort. Es gebe "mehr Business-Seats als in der 'Allianz-Arena' des FC Bayern", monieren sie. Weibliche Fans verurteilen vor allem Susis Show-Bar Loge. Da wird gestrippt - immer wenn ein Tor fällt.

Grote versucht wieder, allen gerecht zu werden. Er finde es "überflüssig, dass da gestrippt wird", sagt er. Aber wenn eine Fangemeinde ihren Klub als "das Freudenhaus der Liga" feiert, könne sie es eigentlich nicht als sexistisch geißeln, wenn auch mal Kiezbetriebe eine Loge betreiben. "Die sind mir in den Logen lieber als die 35. Werbeagentur oder Autovermietung."

Heute ist der SPD-Wahlkämpfer an allen Fronten gefordert, als Sozialpolitiker, Wohnungsbauexperte, Quartiersmanager, Fußballfan, im Internet, als Retter der Klubs und der letzten Raucherkneipen. Und sogar als Mann, wegen der Susi-Loge. Er muss milieusicher sein. Zum Wutbürger darf er es gar nicht erst kommen lassen. Schon gar nicht auf St. Pauli.

Die Frage ist nur, ob die SPD als Ganzes mitzieht. In Altona wollen die Genossen unbedingt die Stadtbahn - Bürgermeisterkandidat Olaf Scholz ist klipp und klar dagegen. Für Andy Grote gehören Raucherkneipen zur Vielfalt auf St. Pauli. "Aber ob in der SPD noch mal eine Mehrheit für eine Raucherkneipen-Initiative zustande kommt, weiß ich nicht", sagt er.

Gegen 21 Uhr gönnt sich Grote, noch immer umbrandet von Gesprächen, sein Bier an der Bar. Er ist zufrieden mit dem lebhaften Abend. Aber er wirkt auch ein bisschen, als hätte er Säcke geschleppt.