Sozialverbände fürchten Versorgungslücken. Das Ende der Wehrpflicht bedeutet das Aus für den Ersatzdienst. “Freiwilligendienst“ geplant.

Hamburg. Für die 91-jährige Anneliese Schulze, die im Seniorenzentrum St. Markus an der Gärtnerstraße (Hoheluft) lebt, sind Enis Güler, 20, und Vincent Ayivon, 18, schon jetzt eine Stütze. Dabei haben die beiden jungen Männer erst Anfang der Woche ihren Zivildienst angetreten - wie insgesamt 175 Hamburger. Sie gehören damit - gemeinsam mit den "Zivis", die noch bis zum 30. Juni ihre sechsmonatige Arbeit in Krankenhäusern, Altenheimen und Kitas aufnehmen werden - zu den Letzten ihrer Art. Denn mit dem von der Bundesregierung beschlossenen Ende der Wehrpflicht verschwindet auch der daran gekoppelte Ersatzdienst. Wertvolle Arbeitskraft, Betreuung und Hilfe gehen verloren.

Doch wie bereiten sich die Sozialverbände, die in der Hansestadt derzeit in mehreren Hundert Einrichtungen insgesamt 2394 Plätze für junge Helfer stellen, auf die Zeit ohne Zivis vor? Wer soll die Aufgaben in Pflege und Betreuung übernehmen? Denn: Anfangs noch oft als "Drückeberger" beschimpft, sind die Zivildienstleistenden längst zu einer Stütze geworden - und zwar nicht nur für Senioren wie Frau Schulze, sondern für das gesamte Sozialsystem. "Die Situation wird schwierig", sagt Rainer Barthel vom Landesverband Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), für das in Hamburg und Schleswig-Holstein 150 Zivis im Einsatz sind. "Bei den meisten Aufgaben, die Zivildienstleistende übernehmen, kommt es auf Vertrauen an. Das muss man sich hart erarbeiten, da kann nicht jeden Tag ein anderer Betreuer einspringen."

Nach Angaben des zuständigen Bundesamtes arbeiten derzeit 1742 Zivis in den sozialen Einrichtungen der Stadt. Um den plötzlichen Schwund für die Trägerverbände und Hilfebedürftige abzumildern, plant das Bundesfamilienministerium den "Bundesfreiwilligendienst" - eine mit Taschengeld entlohnte, einjährige Vollzeitbeschäftigung, vergleichbar mit dem bereits existierenden Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ). Dabei sollen bundesweit 35 000 Zivildienstplätze in Freiwilligenstellen umgewandelt werden, für die sich Wartende auf einen Studienplatz ebenso melden können wie beispielsweise Hausfrauen oder Rentner, die sich sozial engagieren wollen.

"Nur kann man eben leider nicht vorhersagen, wie viele Bürger sich melden werden", sagt Michael Hansen vom Caritasverband Hamburg, der zehn Zivis beschäftigt. Insgesamt seien sogar 94 Zivis in Einrichtungen der katholischen Kirche beschäftigt. Die Abschaffung des Zivildienstes komme zu plötzlich, sagt Hansen. "Es entstehen in jedem Fall Lücken in der Versorgung." Bei der Caritas gibt es deshalb Überlegungen, die Stellen in feste Arbeitsplätze umzuwandeln - "zumindest auf Zeit".

Andere Verbände setzen ihre Hoffnungen darauf, dass das Freiwillige Soziale Jahr für noch mehr junge Menschen attraktiv wird. Beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) in Hamburg absolvieren derzeit 50 junge Hamburger ein Freiwilliges Soziales Jahr, während nur noch 35 Zivis beschäftigt sind. "Die Verkürzung des Zivildienstes von neun auf sechs Monate war schon eine Herausforderung. Damals haben wir begonnen, uns verstärkt um FSJ-ler zu bemühen", sagt Sprecher Remmer Koch.

In der Hansestadt gibt es, wie aus einer Großen Anfrage der SPD hervorgeht, insgesamt 1124 FSJ-Plätze, wovon im Vorjahr 1056 vergeben wurden. Nach Plänen des Bundes sollen die Länder mit Bundesförderung ihre FSJ-Plätze auf insgesamt 35 000 erhöhen, sodass künftig genauso viele Männer und Frauen im Alter von 16 bis 69 Jahren den "Dienst am Menschen" leisten können wie zu Zivildienstzeiten.

"Diesen Ausbau des FSJ haben wir schon vor einiger Zeit gefordert", sagt Jürgen Kaczmarek vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, der in Hamburg 80 Zivis in insgesamt 150 Einrichtungen beschäftigt. Allerdings befürchtet er, dass Freiwillige die Zivis nicht vollständig ersetzen können. Und: "Bisher haben sich durch den Zivildienst viele junge Männer für soziale Berufe begeistert - das fällt künftig auch weg."

Doch der Zivildienst ist offenbar nicht nur bei den Sozialverbänden beliebt, sondern auch bei den jungen Männern selbst. Dem Diakonischen Werk, das 656 Zivi-Plätze stellt, liegen bereits mehr als 300 Anträge von Zivis vor, die ihren sechsmonatigen Dienst um mindestens drei Monate verlängern wollen. "Den Lohn zahlt das zuständige Bundesamt weiter", sagt Sprecher Steffen Becker. "Und vielen jungen Männern macht der Dienst so viel Spaß, dass sie ihn bis zum Beginn des Studiums oder der Ausbildung weiterführen."

Das deckt sich mit den Beobachtungen von Antje Mäder, Sprecherin des Bundesamtes für Zivildienst. Bundesweit gebe es "dreigeteilte Reaktionen" bei den Trägerverbänden hinsichtlich der Abschaffung des Zivildienstes: "Einige haben sich auf die neue Situation mit mehr FSJ-Stellen eingestellt und gleichen so das Defizit aus. Andere haben tatsächlich mehr Vollzeitstellen schaffen müssen, und natürlich bekommen wir auch zahlreiche empörte Meinungen zu hören. Vielen Verbänden brechen schlicht die Arbeitskräfte weg."

Und diese Arbeitskräfte haben sich anscheinend schon frühzeitig auf die Abschaffung der Wehrpflicht eingestellt. So erreichten 2010 nur noch 117 515 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung das Bundesamt, im Vorjahr waren es noch gut 150 000 gewesen.

Für Enis Güler und Vincent Ayivon, die Zivis im Seniorenzentrum St. Markus, bleibt die Debatte theoretisch. Sie freuen sich ganz praktisch auf die Aufgaben, die sie in den kommenden sechs Monaten erwarten. "Wir finden es wichtig, dass man sich sozial engagiert", sagen die beiden jungen Männer.