112-Millionen-Programm für mehr Kinderschutz funktioniert nicht. Missstände würden angeblich an die falschen Dienste weitergeleitet.

Hamburg. Die Schwierigkeiten mit einem Computerprogramm für die Jugendämter beschäftigt nun auch den Jugendhilfeausschuss im Bezirk Mitte. Dessen Jugendamtsleiter berichtete dort am Montag über Schwierigkeiten mit der 112 Millionen Euro teuren Software. "Ob diese mit der Handhabung zu tun haben, mit technischen Problemen oder Stress, ist noch nicht klar", sagte Mitte-Jugendamtsleiter Peter Marquard dem Abendblatt und bestätigte damit einen entsprechenden Bericht von NDR 90,3.

Seine Mitarbeiter hätten von Problemen berichtet. Im Zusammenhang mit etwaiger Kindeswohlgefährdung nach dem Methadontod der elfjährigen Chantal erzeuge dies "doppelte Nervosität", sagte Marquard. "Das müssen wir erst nehmen." Mitarbeiter gaben an, dass etwa Polizeimeldungen über Missstände in Familien vom System angeblich an die falschen Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) weitergeleitet würden. "Wenn es technische Probleme bei der Zuordnung von Polizeimeldungen gibt, dann müssen wir für den Übergang nach Umgehungslösungen suchen", so Marquard. "Auch wenn das bedeutet, dass man für eine gewisse Zeit wieder mit Faxen arbeitet."

+++ Pannen beim Prestigeprojekt +++

+++ Prüfer legen Protokoll des Versagens im Fall Chantal vor +++

Seit dem 21. Mai ist die neue Software namens JUS-IT in den Jugendämtern in Betrieb. Bislang arbeiten rund 500 Sachbearbeiter damit. Ziel ist es, dass es neben den Jugend- auch von den Sozialämtern sowie den Wohngeldstellen angewendet wird - von insgesamt 1850 Mitarbeitern. JUS-IT soll dazu beitragen, den Kinderschutz zu verbessern, weil es die Arbeit der Sachbearbeiter besser vernetzt. Initiiert hatte das Projekt Dietrich Wersich (CDU), Vorgänger von Sozialsenator Detlef Scheele (SPD). Es war als Konsequenz aus früheren Fällen von Kindesvernachlässigungen mit tödlichen Folgen wie Jessica und Lara-Mia geplant worden. Die Einführung von JUS-IT hat sich immer wieder verzögert. Zwischenzeitlich drohte eine Verdreifachung der Kosten. Mittlerweile gibt es laut Sozialbehörde aber einen Vertrag mit dem Softwarehersteller über einen Festpreis.

Mithilfe von JUS-IT sollen sich die Behördenmitarbeiter schnell einen Überblick über die Maßnahmen verschaffen können, die den jeweiligen Kindern und Familien zugeteilt worden sind, egal, mit welchen Ämtern sie bereits zu tun gehabt haben. Mit dem neuen System lassen sich dann daraus resultierende Maßnahmen ablesen. Es zeigt sofort an, ob diese Maßnahmen auch angewiesen wurden oder nicht. Im Fall von Chantal hätte JUS-IT, so die Theorie, dazu geführt, dass die Pflegeeltern automatisch als nicht geeignet angegeben worden wären.

Aus Kreisen der Sozialbehörde heißt es, dass diese neue Transparenz möglicherweise der Grund sein könnte, weshalb das Programm nicht funktioniert. Die Mitarbeiter nehmen es nicht an. Technisch arbeite das Programm nämlich einwandfrei. Dem widersprachen allerdings rund 30 Leiter der Allgemeinen Sozialen Dienste in einem Beschwerdebrief in der vergangenen Woche. Sozialsenator Scheele hat die Bezirke daraufhin aufgefordert, ihre Probleme mit JUS-IT zu benennen. Bislang sind keine Rückmeldungen in der Behörde eingegangen.