Keine Neuverschuldung in Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. CDU fordert mehr Ehrgeiz vom Senat

Hamburg. Wer meint, Finanzpolitik sei eine trockene Materie, die weitgehend aus unbestechlichen Zahlen und Fakten besteht, sollte sich den kommenden Dienstag im Kalender anstreichen. Dann wird Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) vermutlich den Jahresabschluss für 2011 vorstellen, und das wird völlig unterschiedliche Interpretationen auslösen - die einen werden von einer finanziell potenten Stadt sprechen, die schon bald Überschüsse erwirtschaften wird, die anderen von einer Kirchenmaus, die sich strecken muss, um wenigstens 2020 ohne neue Schulden auskommen zu können. Verantwortlich für diese Kakofonie wird vor allem eine Zahl sein: 492,5 Millionen Euro, jedenfalls nach derzeitigem Stand.

So hoch war nach einem Bericht des Bundesfinanzministeriums die Kreditaufnahme Hamburgs im vergangenen Jahr. Sie kann sich zwar noch etwas verändern, da die Finanzbehörde noch am "13. Kassenlauf" arbeitet, einem Verfahren, in dem nach Jahresende noch Buchungen im Haushalt des Vorjahres vorgenommen werden - etwa, weil in 2011 gestellte Rechnungen erst im Januar bezahlt wurden. Aber die Größenordnung dürfte in etwa stimmen, und so eröffnete die CDU gestern bereits den Kampf um die Deutungshoheit.

"Die derzeitige Haushaltslage Hamburgs ist besser als erwartet", sagte CDU-Finanzexperte Roland Heintze. "Der Plan der SPD, die Schuldenbremse auf den letztmöglichen Termin 2020 hinauszuzögern, ist absolut unseriös." Heintze rechnet vor, dass der Senat von den 492,5 Millionen Euro für 205 Millionen ein teures Darlehen der Wohnungsbaukreditanstalt abgelöst habe und mit weiteren 207 Millionen ein Loch im Sondervermögen "Stadt und Hafen" gefüllt habe, aus dem die Hafen-City finanziert wird. Tatsächlich betrage das Defizit des Hamburger Haushalts also nur 81 Millionen Euro. In einem 11,5-Milliarden-Etat in der Tat eine relativ kleine Summe - vor allem im Vergleich zu 2010, als die Stadt noch 915 Millionen Euro neue Schulden machte. Weil die SPD trotz des positiven Trends unverändert an der Schuldenbremse 2020 festhält, warf Heintze Bürgermeister Olaf Scholz und Finanzsenator Tschentscher vor, mit den Ängsten der Hamburger zu spielen, "indem sie die finanzielle Situation der Stadt dramatisieren".

Auf Regierungsseite empfindet man die Vorwürfe hingegen als absurd. Wenn der Senat das historisch günstige Zinsniveau ausnutze und teure Altkredite durch solche ablöse, die praktisch nichts kosten, spare die Stadt Millionen Euro an Zinsen pro Jahr. "Das ist kluges kaufmännisches Handeln", sagt SPD-Haushaltsexperte Jan Quast dem Abendblatt. Dass diese Umschichtung offiziell als neue Kreditaufnahme ausgewiesen werden muss - obwohl es keine ist -, nehme man in Kauf. Von Symbolpolitik wie der von Ex-Finanzsenator Michael Freytag (CDU), der 2007 öffentlichkeitswirksam eine Million Euro an Schulden zurückgezahlt, danach die Zügel aber wieder gelockert hatte, halte er nichts, so Quast. "Wir wollen nicht mal vorübergehend ohne Schulden auskommen, sondern den Haushalt nachhaltig konsolidieren."

Nach SPD-Lesart ist das eine Herkulesaufgabe. Denn erstens betrage das strukturelle Defizit - also die Schere zwischen Einnahmen aus Steuern, Abgaben und Gebühren auf der einen Seite und den Ausgaben auf der anderen - nach wie vor rund eine Milliarde Euro pro Jahr. Daran ändere auch ein Jahr mit erfreulich hohen Steuereinnahmen und "nur" 81 Millionen Euro Neuverschuldung nichts. Und zweitens komme ein Sanierungsbedarf an öffentlichen Gebäuden und Infrastruktur in Höhe von 4,7 Milliarden Euro hinzu - beides im Übrigen Berechnungen des Rechnungshofs. Forderungen nach einem Vorziehen der Schuldenbremse nennt Quast daher "unseriös". Bemerkenswerterweise stützt sich auch CDU-Mann Heintze auf Argumente des Rechnungshofs. So habe die unabhängige Behörde mehrfach mehr Anstrengung bei der Haushaltssanierung gefordert. Auch das ist richtig.

Immerhin: Den Vorstoß der CDU, eine "Haushaltsstrukturkommission" einzurichten, der außer der Politik auch die Kammern und der Steuerzahlerbund angehören sollen, steht die SPD offen gegenüber. "Wir werden den Vorschlag prüfen", sagt Quast.

Wie man öffentliche Haushalte ohne Kredite ausgleicht, kann Hamburg östlich seiner Landesgrenze beobachten: Mecklenburg-Vorpommern gehört nach den Angaben des Bundesfinanzministeriums zu den vier Bundesländern, die 2011 ohne Neuverschuldung auskamen. 246 Millionen Euro Überschuss erwirtschaftete das strukturschwache Küstenland. Auch Brandenburg (144,8 Millionen Euro im Plus) und allen voran Sachsen (plus 2,026 Milliarden) wiesen ein sattes Plus im Etat aus. Im Westen schaffte das nur Bayern (plus 950,4 Millionen).

Allerdings handelt es um vier Flächenländer, deren Situation nicht mit denen der Stadtstaaten vergleichbar ist. Denn während bei den Flächenländern die Schulden der Kommunen gesondert ausgewiesen werden, sind sie bei den Städten Berlin, Bremen und Hamburg, die Land und Kommune zugleich sind, mit im Landeshaushalt enthalten. Außerdem haben Stadtstaaten eine schwierigere Sozialstruktur und erfüllen zudem viele Funktionen - etwa im Bereich Verkehr, Bildung und Gesundheit - für das Umland mit, was nur zum Teil durch einen "Stadtstaatbonus" bei der Steuerverteilung berücksichtigt wird. So gilt: Die Zahlen des Ministeriums lügen zwar nicht, aber welchen Schluss man daraus zieht, ist Interpretationssache.