Bereits 2004 stand die Abschaffung der Kinderkuren zur Debatte. Damals legte die Oppositionspartei SPD heftigen Widerspruch ein.

Hamburg. Es war die Stunde des Oppositionschefs. Der Plan des Senats, Kuren für Kinder aus Hartz-IV-Familien in Wyk auf Föhr zu streichen, sei Kennzeichen einer "menschenverachtenden Ideologie" und zeuge von der "Arroganz der Macht". Das Vorhaben, "in einem Handstreich Kinderkuren zu streichen", sei "nicht nur verantwortungslos, sondern schamlos".

Das waren harte Vorwürfe in der Bürgerschaft, die damals - während der Haushaltsberatungen im Juni 2004 - prompt wütende Reaktionen der Regierungsseite hervorriefen. Der Urheber der Angriffe war Michael Neumann, der im Juni 2004 Fraktionsvorsitzender der oppositionellen SPD mit ausgeprägtem Hang zu Polemik und Zuspitzung war und heute Innensenator ist.

Die Empörung hatte die damalige Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) ausgelöst, die das komplette Angebot der Kinderkuren streichen wollte - nicht nur das Haus in Wyk auf Föhr, sondern auch in Timmendorfer Strand sollte geschlossen werden. Wie sich die Bilder gleichen: Vor wenigen Tagen kam heraus, dass der heutige Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) überlegt, immerhin das Angebot auf der Nordseeinsel zu kippen.

Pro Jahr können rund 600 Kinder aus benachteiligten Familien für vier Wochen kostenlos in dem Heim auf Föhr leben. Wenn Lehrer oder Sozialarbeiter eine gravierende Problemlage in der Familie feststellen, die Schulleistungen plötzlich absacken oder ein Schüler kaum mehr zum Unterricht erscheint, kann die Auszeit auf Föhr helfen, dem Kind oder Jugendlichen wieder Stabilität zu verleihen. In Abstimmung mit der Hamburger Schule arbeiten zwei Pädagogen individuelle Lernpläne für die Kinder aus. Betrieben wird die Einrichtung von der Rudolf-Ballin-Stiftung, die Zuwendungen aus dem Hamburger Haushalt erhält.

Es ist ein im Grunde passgenaues, niedrigschwelliges Angebot ohne komplizierte Einbindung anderer Institutionen wie Krankenkassen, mit voller Auslastung und Warteliste. Es gibt nur einen Nachteil: die Kosten in Höhe von zwei Millionen Euro jährlich, die jedem Sparkommissar im Senat sofort ins Auge fallen - offensichtlich unabhängig davon, wer gerade den Senat stellt.

Und die Argumente sind auch die gleichen: Schon Schnieber-Jastram hatte 2004 auf die Sonderstellung Hamburgs hingewiesen. "Es gibt in keinem anderen Bundesland Kinderkuren, die von den Sozialbehörden oder dem Landessozialamt bezahlt werden", sagte die Senatorin. Mit anderen Worten: Es geht auch ohne. Auch Schnieber-Jastrams Nachfolger Scheele denkt in diese Richtung. Neumann hatte darauf übrigens schon 2004 eine Antwort parat: "Anstatt stolz darauf zu sein, dass die Hamburger etwas haben, was niemand anderes in der Republik hat, benutzen Sie dieses als Argument, um es schlichtweg plattzumachen", fuhr Neumann Schnieber-Jastram an.

Aktuell möchte sich Neumann zur möglichen Streichung des Angebots verständlicherweise nicht direkt äußern. Nur so viel: "Ich bin mir sicher, dass Senator Scheele eine kluge Entscheidung treffen wird", sagte der Innensenator dem Abendblatt.

Auch der damalige SPD-Landeschef Mathias Petersen, heute Vorsitzender des Haushaltsausschusses der Bürgerschaft, hatte massive Kritik am Senat geübt. Der Verzicht auf die Kinderkuren sei "kaltherzig", viele der Mädchen und Jungen, die nach Föhr kommen, sähen zum ersten Mal das Meer. Petersen hat in der SPD-Fraktionssitzung am Montag deutlich gemacht, dass er nach wie vor für den kompletten Erhalt des Angebots auf Föhr ist.

Zwar ist noch nichts entschieden, aber die allein regierende SPD musste in dieser Woche schon mal vorab die Kritik über sich ergehen lassen, mit der sie damals die CDU überzogen hatte. "Das ist Politik auf Kosten der Schwächsten", sagte der CDU-Abgeordnete Dennis Gladiator in der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft. Für den Hapag-Lloyd-Deal sei Geld da, nicht aber für die ärmsten Kinder. Neumann hatte 2004 übrigens den Neubau der U-BahnStrecke in die HafenCity als Vergleich herangezogen. Die GAL-Jugendpolitikerin Christiane Blömeke sprach jetzt schlicht von einer "Schande". Tatsächlich ringt die SPD um eine Lösung für das Problem mit den Kinderkuren. Politisch ist die komplette Streichung des sozialpolitisch wünschenswerten Angebots gerade für die SPD nicht durchzuhalten. Das ist sowohl Scheele als auch Bürgermeister Olaf Scholz klar, der sich über den Fall informiert hat.

Andererseits wären mit dem Verzicht auf die Wyker Kuren auf einen Schlag zwei der 6,7-Millionen-Euro-Einsparungen abgehakt, die die Sozialbehörde im Bereich der Zuwendungen im Haushalt 2013/14 erbringen muss. Vielleicht ist für die SPD lehrreich, wie der Streit um die Kinderkuren 2004 ausging. Der damalige Geschäftsführer der Ballin-Stiftung, Werner Dobritz, ein kampferprobtes SPD-Schlachtross, legte sofort nach Bekanntwerden der Streichungspläne sein Amt als Vorsitzender des Stadtentwicklungsausschusses nieder. "Ich musste mich zurücknehmen und wollte Zugang zu den CDU-Abgeordneten haben, die sich mit dem Thema beschäftigten", sagt Dobritz heute. Ein Dauerfeuer des Oppositionspolitikers Dobritz gegen den CDU-Senat wäre da hinderlich gewesen.

Nach einem Besuch in dem Heim auf Föhr hatten sich die CDU-Sozialpolitiker festgelegt. "Es wird keine Streichung der Kinderkuren geben. Wir haben als CDU schließlich ein soziales Gewissen", sagte der CDU-Jugendpolitiker Marcus Weinberg, heute Landeschef seiner Partei. Und Sozialpolitiker Frank Schira, heute Erster Vizepräsident der Bürgerschaft, sagte, er werde für die Streichung des Angebots "meine Hand nicht heben".

Dazu kam es auch nicht. Schnieber-Jastram und die Unions-Abgeordneten einigten sich auf einen Kompromiss. Langzeitkuren wurden abgeschafft, was 7,5 Millionen Euro einsparte, aber für die Häuser in Wyk und Timmendorfer Strand gab es weiterhin 3,3 Millionen Euro für vierwöchige Aufenthalte.

In der SPD geht es jetzt um Alternativen. Ein reines Ferienangebot für Kinder aus Hartz-IV-Familien könnte auch in Schullandheimen oder Freiluftschulen verlagert werden, heißt es. Ein Verzicht auf die Kinderkuren in Wyk mit der Folge der Schließung des Heims würde eine völlig neue Option eröffnen: Haus und Grundstück in höchst attraktiver Meereslage direkt am Strand sind im Besitz der Stadt, ließen sich also eventuell gewinnbringend verkaufen.