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Urban Sketching: Harburg — wie ich es sehe

| Lesedauer: 6 Minuten
Bianca Wilkens
Ein Stuhl im Baum auf der Rückseite des Harburger Rathauses - das fand Elke Schmidt besonders interessant

Ein Stuhl im Baum auf der Rückseite des Harburger Rathauses - das fand Elke Schmidt besonders interessant

Foto: Bianca Wilkens / HA

Urban Sketching– für das Abendblatt entdecken vier Hobbyzeichner die Region im Hamburger Süden. Diesmal: der Bezirk Harburg.

Harburg. Den Stift in der rechten Hand, das Rathaus fest im Visier, Blick nach unten, ein paar Zeichenstriche, wieder Blick nach oben. So geht es mehrere Minuten lang, ohne dass Thorsten Kleier, Elke Schmidt, Tine Beutler und Doris Schliemann ein Wort wechseln. Nur das leichte Kratzen der Stifte mischt sich unter das Zwitschern der Vögel. Die Zeichner hocken nur wenige Meter vom Gebäude entfernt auf den Holzbänken des Rathausplatzes in Harburg. Neben ihnen Aquarellfarbnäpfe, auf dem Schoss die Skizzenblöcke.

Die vier Zeichner sind Urban Sketchers. Die Idee: Sie setzen sich einfach irgendwo hin und zeichnen das, was ihnen gerade ins Auge fällt. Eine schöne – weltweite – Bewegung, die das Hamburger Abendblatt jetzt in einer zehnteiligen Serie ganz lokal begleitet. Heute steht der Bezirk Harburg im Fokus.

Was dabei herauskommt, kann sehr unterschiedlich sein, obwohl die Vier nahe beieinander sitzen. Tine Beutler, 53, aus Buxtehude, legt ihren Schwerpunkt auf das Restaurant Dubrovnik, Doris Schliemann, 68, aus Meckelfeld fokussiert sich auf die Menschen vor dem Rathaus, Thorsten Kleier, 52, aus Buchholz wiederum hat vor allem die Laterne und die Torbögen im Blick und Elke Schmidt, 71, fasziniert das Kunstobjekt, das im Baum auf der Rückseite des Harburger Rathauses hängt.

So fangen sie Motive auf unterschiedliche Art und Weise ein. Alle vier haben sich schon als Kind oder Jugendlicher für Stift und Block begeistert. Sie haben sich in der Urban Sketching Bewegung kennen gelernt. Nachdem Thorsten Kleier, Landschaftsgärtnermeister aus Buchholz, zufällig ein Buch über Urban Sketching entdeckt hatte, schloss er sich vor drei Jahren einigen Sketchern in Hamburg an. Die ersten Bilder entstanden am Oortkatener Hafen und in Pinneberg. Daraus entwickelte er die Idee, monatliche Treffen zu organisieren. Inzwischen sind die Skizzenbücher der vier Urban Sketchers voll von historischen Gebäuden, bekannten Arealen wie dem Museumshafen, von belebten, aber auch unentdeckten Ecken.

Urban Sketcher berufen sich auf ein Manifest

Ihre Wurzeln hat die Szene ist in den USA. Der spanische Journalist und Illustrator Gabriel Campanario aus Seattle rief 2007 die Urban-Sketchers ins Leben – als Internet-Gemeinschaft. Als Tausende Menschen ihre Skizzen posteten, gründete Campanario eine gemeinnützige Organisation mit einem Manifest, an dem sich die Urban Sketcher auf der ganzen Welt orientieren. Hauptkriterium: die Zeichnungen müssen vor Ort entstanden sein. Weder dürfen Fotos als Vorlage dienen noch dürfen sich die Urban Sketchers von der Phantasie leiten lassen.

Die acht Punkte des Urban Sketchers Manifests: 1. Wir zeichnen vor Ort, drinnen oder draußen, nach direkter Beobachtung. 2. Unsere Zeichnungen erzählen die Geschichte unserer Umgebung, der Orte, an denen wir leben oder zu denen wir reisen. 3. Unsere Zeichnungen sind eine Aufzeichnung der Zeit und des Ortes. 4. Wir bezeugen unsere Umwelt wahrhaftig. 5. Wir benutzen alle Arten von Medien. 6. Wir unterstützen einander und zeichnen zusammen. 7. Wir veröffentlichen unsere Zeichnungen online. 8. Wir zeigen die Welt, Zeichnung für Zeichnung.

Die Urban Sketcher zeichnen vor Ort in Städten, Orten und Dörfern, in denen sie zuhause sind oder zu denen sie reisen. Sie geben so Ereignisse des täglichen Lebens wieder. Die Motive sind Szenen aus Städten und aus ländlichen Gebieten. Es können Gebäude, Parks, Märkte, Autos, Züge und Menschen sein.

Daher ist das Urban Sketching für Thorsten Kleier so etwas wie Bildjournalismus. Die Beschreibung auf den Zeichnungen liefere sachliche Informationen, und die Skizze transportiere zugleich die eigenen Eindrücke. „Wir zeigen den Menschen auf der ganzen Welt unterschiedliche Orte, sowohl ihre schönen als auch ihre hässlichen Seiten“, sagt er.

Das stößt auf wachsendes Interesse. „Wir bekommen täglich neue Anmeldungen“, sagt Kleier. Vor drei Jahren nahm nur eine Hand voll Freizeitzeichner an den Treffen teil. Jetzt kommen bis zu 30 Urban Sketchers. Es ist eine bunte Gruppe aus Profis und Amateuren, Alten und Jungen und aus allen Gesellschaftsschichten. Die Facebook-Gruppe der Hamburger Sketchers zählt inzwischen 556 Mitglieder. Die internationale Facebook-Gruppe hat aktuell 56.723 Mitglieder.

Zeichnen als Stressbewältigung

Was ist also so faszinierend am Urban Sketching? Warum bekommt die Szene so viel Zulauf? Tine Beutler sieht darin eine Gegenbewegung zur Digitalisierung - ein Innehalten in der schnelllebigen und reizüberfluteten Zeit. „Ein Foto ist wie Fast Food“, sagt sie. „Die Skizzen aber sind intensiver.“ So wie Meditationskurse und Erholungsurlaube in Klostern boomen, haben viele Menschen das Zeichnen entdeckt. Auch für Thorsten Kleier ist das Zeichnen im Freien eine Art Stressbewältigung. „Ich kann mich dabei total entspannen.“ Und: Es sei etwas sehr Persönliches. „Wie ein Tagebucheintrag“, sagt Kleier.

Zumal jeder seine eigene Zeichensprache entwickelt hat und sich die Skizzen allein schon in ihren Schwerpunkten unterscheiden. Denn manche heben nicht immer das hervor, was zuerst ins Auge fällt. Tine Beutler schlägt ihr Skizzenbuch auf und zeigt, wie sie die Moisburger Mühle gemalt hat: bei ihr steht der Holzaufbau der Mühle im Fokus, nicht das Mühlenrad.

Während die vier Urban Sketchers reden, gleiten die Stifte übers Papier. So langsam kommt Farbe in die Skizzen. An Material und Ausstattung ist alles erlaubt – Füller, Bleistift, Tinten-Fineliner, Textmarker, Aquarellfarben, aber auch Öl und Acryl. Auch in der Ausstattung gibt es eine große Bandbreite. Auf einige Hürden müssen sich die Urban Sketcher allerdings beim Zeichnen im Freien einstellen: Dass sich die Menschen, die sie portraitieren, auch mal bewegen, und Dinge, die eben noch da waren, wieder verschwinden. So wie der Motorroller, der eben noch vor dem Restaurant Dubrovnik stand und mit dem der Besitzer jetzt knatternd davonzieht. „Aber das nicht alles vorhersehbar ist, ist ja gerade das Witzige am Urban Sketching“, sagt Thorsten Kleier.

Die Serienteile:

1. Harburg

2. Hollenstedt

3. Buxtehude

4. Winsen

5. Buchholz

6. Hoopte

7. Neu Wulmstorf

8. Bendestorf

9. Jesteburg

10. Hittfeld

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