In Stelle mit seinen 6000 Einwohnern gibt es gleich vier Kirchengemeinden. Früher waren sie zerstritten, heute werden die Gemeinsamkeiten betont

Stelle. Zwischen Seeve und Luhe, wo die Geest zur Marsch wird und die Elbe nahe ist, muss schon immer ein besonderes Völkchen gewohnt haben. Oder warum sonst schrieb der Hauptlehrer Heinrich Ritter 1886, dass „der Ort Stelle im ganzen Kreise Winsen bekannt ist wegen der Uneinigkeit seiner Bewohner“? Am meisten, so heißt es in seinen Erinnerungen weiter, fielen die kirchlichen Schranken ins Auge. Drei Gotteshäuser in einem etwa 1500 Einwohner zählenden Dorf, das sei ja wohl etwas zu viel, empörte sich der Pädagoge. Der Gute kann froh sein, dass er die Gründung der vierten Kirchengemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr miterleben musste, ihm hätten vermutlich die Worte gefehlt.

Heute erheben noch immer vier Gotteshäuser ihre Häupter über dem etwa 6000 Einwohner zählenden Kernort Stelle. Sie gehören der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Michael, der selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde (SELK) St. Petri, der evangelisch-freikirchlichen Baptisten-Gemeinde und der neuapostolischen Kirche. Neuankömmlingen sticht die große kirchliche Vielfalt in diesem kleinen Dorf sofort ins Auge.

Pastor Kai-Uwe Hecker von der St.-Michaels-Gemeinde hat ebenfalls eine Erklärung für dieses Phänomen des „Heiligen Stelles“ gefunden. „Vielleicht liegt es an der Rechthaberei der Leute“, sagt er. Jeder will es besser wissen, im Leben wie im Glauben. Als Pastor sieht er seine Aufgabe darin, die Leute zusammenzuführen und weniger das Trennende als das Gemeinsame in den Vordergrund zu rücken. Als er vor 20 Jahren als Pastor anfing, habe er gefragt, wie die Religionsgemeinschaften in der gesamten Gemeinde, die etwa 11.000 Einwohner zählt, verteilt seien, erinnert er sich. Die Antwort des Kirchenvorstands war, dass sie keine genauen Zahlen hätten, aber davon ausgingen, dass 3000 zu den Baptisten gehörten, 3000 zur SELK und weitere 3000 zur St.-Michaels-Gemeinde.

Bis auf ihre eigenen Zahlen sollte der Vorstand komplett daneben liegen. Die Bapisten sind viel weniger, ihre Zahl liegt heute bei 180 Mitgliedern. Und auch die SELK ist keine riesige Gemeinde, zu ihr bekennen sich 235 Gläubige. Die neuapostolische Kirchengemeinde, die anders als Baptisten und SELK nicht offiziell Mitglied der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) ist, kommt auf gerademal 140 Mitglieder.

Dass der St.-Michaels-Vorstand so daneben lag, belegt vor allem, wie wenig die Kirchengemeinden lange Zeit voneinander wussten. Selbst in einem kleinen Dorf wie Stelle war man darauf bedacht, Abstand zu halten, was sicherlich auch in der größeren Bedeutung von Kirche und Glaube in vergangenen Jahrzehnten begründet ist. Martha Tschersich hat die strikte Trennung am eigenen Leib erfahren. Als die heute 81-Jährige 1951 ihren Mann kennenlernte und von der St.-Michaels-Gemeinde zu den Baptisten übertrat, musste sie von heute auf morgen auch den Lautenchor verlassen. „Die wollten mich nicht mehr, also musste ich mich entscheiden“, sagt sie. Kirche oder Chor – die junge Frau wählte die Kirche und mischte fortan eben im Chor der Baptisten mit. „Das ging auch.“

Heute sitzt Martha Tschersich zusammen mit etwa 20 anderen Männern und Frauen im Gemeindesaal der Baptisten und lauscht den Worten von Anke Mühling, der Pastorin der evangelisch-lutherischen Martin-Luther-Gemeinde Fliegenberg. Die Josef-Geschichte aus dem Alten Testament soll an diesem Abend besprochen werden, Baptisten sind ebenso gekommen wie Gläubige der SELK und der evangelisch-lutherischen Kirche. Berührungsängste gibt es nicht. „Die Beziehungen sind in den vergangenen 30 Jahren immer mehr gewachsen“, sagt Hannelene Kahle, 64 Jahre alt und Mitglied der SELK. Sie selbst lebt in Fliegenberg und geht dort auch häufig in die Martin-Luther-Kirche. „Im Ort selbst war der Kontakt aber immer gut, das liegt sehr an den einzelnen Personen“, sagt sie. Ihre Sitznachbarin Lydia Rickmann stammt ebenfalls aus Fliegenberg, gehört aber zur Martin-Luther-Gemeinde. „Bei uns ist die Glaubensrichtung kein Thema“, sagt sie. Früher sei das aber anders gewesen, da habe es knallharte Fronten gegeben.

Im 21. Jahrhundert ist davon nur noch wenig übrig. Die evangelisch-lutherische Kirche, die SELK und die Baptisten veranstalten in Stelle regelmäßig gemeinsame Aktionen wie die Bibel- und Gebetswoche oder ein Fußballturnier, außerdem kümmern sie sich in trauter Eintracht um die Asylbewerber in der neuen Unterkunft am Fachenfelde. Einzig die neuapostolische Kirchengemeinde ist bisher noch außen vor, weil sie von vielen als Sekte eingestuft wird. Die Grenzen bröckeln aber zusehends.

„Wir Kirchengemeinden bekämpfen uns nicht untereinander, die unterschiedlichen Gemeinden sind eine Bereicherung für den Ort“, sagt SELK-Pastor Christian Rehr. Trotzdem weiß er natürlich auch, mit welcher Vehemenz sich seine kirchlichen Vorväter in Stelle Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die aus ihrer Sicht erfolgte Verweltlichung der evangelischen Kirche sperrten, gegen die staatliche Einflussnahme und gegen die Vermischung unterschiedlicher christlicher Bekenntnisse. Einfach wegwischen lässt sich die Geschichte nicht. „Viele Leute sagen, wir sind sehr katholisch“, drückt Rehr die Besonderheit der St.-Petri-Gemeinde aus. Die große Bedeutung der Bibel, das Knien beim Abendmahl, das viele Singen und die Beichte lassen Parallelen durchaus erkennen. Anders als die Landeskirche erhebt die SELK keine Kirchensteuer, der Beitrag beruht auf Freiwilligkeit.

Damit gibt es wiederum eine Parallele zur Baptistengemeinde, die sich ebenfalls selbst finanziert. „Die, die zu uns gehören, sind aus Überzeugung dabei“, formuliert es Baptisten-Pastor Roland Bunde. Von den 180 Mitgliedern gehören 110 bis 120 zu den regelmäßigen Kirchgängern. In diesem Jahr besteht das jetzige Gotteshaus seit 100 Jahren, die freikirchliche Gemeinde selbst hatte ihre Ursprünge viel früher. Lange Zeit sei die Kirche, die sich vor allem in der großen Bedeutung der Taufe von der evangelisch-lutherischen Landeskirche unterscheidet, als Sekte kritisch beäugt worden, erzählt Bunde. Angefeindet wurden sie, aber ehrlicherweise dürfe man nicht unterschlagen, dass sich auch die Baptisten selbst separierten. „Es hängt immer von den Akteuren ab“, sagt er.

Auch die neuapostolische Gemeinde Stelle will sich dem Weg der stetigen Öffnung nicht verschließen. Im vergangenen Jahr gab es beispielsweise einen Tag der offenen Tür. „Unsere Kirche hat sich eine gewisse Zeit abgeschottet, aber das hat sich mittlerweile sehr verändert“, sagt Gemeindevorsteher Frank Freisleben. 85 Prozent der Glaubenslehre seien identisch, erklärt er. Unterschiedlich ist unter anderem, dass die geistlichen Führer als Apostel bezeichnet werden, außerdem nimmt die Rückkehr Jesu auf Erden eine zentrale Rolle ein. Bis auf die Apostel seien alle Gemeindemitglieder Laien, erklärt Jürgen Rudnik, der dem gesamten Bezirk im Dreieck Buxtehude bis Winsen und Rotenburg an der Wümme vorsteht. Das sei ein weiterer Unterschied zu den anderen Steller Kirchengemeinden und schlage sich im Gottesdienst nieder.

„Wir selbst sind sehr daran interessiert, dass der christliche Glaube im 21. Jahrhundert überlebt“, sagt Frank Freisleben. Damit bringt er das auf den Punkt, was auch die anderen Steller Pastoren als eines der Ziele ihrer Zusammenarbeit sehen. „Entscheidend ist der Glaube, da rücken die Konfessionen immer enger zusammen“, sagt Baptisten-Pastor Roland Bunde. St.-Michaels-Pastor Kai-Uwe Hecker drückt es noch einmal anders aus. Wenn man die insgesamt rund 6000 Einwohner im Kernort sehe und dann die 3000 Mitglieder seiner Gemeinde – von denen höchstens 600 aktiv sind – müsse man eigentlich von einer Art „Minderheit mit Mehrheitskomplex“ sprechen. Auch wenn sich offiziell die Zahl der Nicht-Christen und Christen die Waage hält.

Dass die Bedeutung von Kirche und Glaube zumindest in Deutschland immer geringer wird, kann auch Hecker nicht leugnen. Er ist aber überzeugt, dass der Glaube wieder wächst, wenn die Menschen einen spirituellen Kern vermissen. „Die anderen Kirchengemeinden haben vielleicht eine andere Art als wir, auf die Menschen zuzugehen“, sagt er. Aber im Grunde geht es doch um das Gleiche: die Suche nach etwas mehr Sinn im Leben.