Wenn der Opernfundus kommt, droht dem Zusammenschluss “Sinnwerke“ die Vertreibung von der Elbinsel Wilhelmsburg. Betroffen wären 24 Kreative mit ungewöhnlichen Biografien. Abendblatt stellt fünf von ihnen vor.

Wilhelmsburg. Viele Städte in Deutschland setzen auf Kultur als Motor der Wirtschaft. Der frühere Kölner Arbeiterbezirk Ehrenfeld etwa steht für den Wandel von einem Industrieviertel zum Dienstleistungs- und Kulturviertel. Eine ganze Generation Wirtschaftsförderer ist überzeugt von der Theorie der kreativen Klasse des amerikanischen Ökonomen Richard Florida. Demnach werde Kreativität die Quelle von Wohlstand und Wachstum sein. Städte müssten alles dafür tun, kreative Menschen anzuziehen.

In Hamburg-Wilhelmsburg dagegen droht einem frei entstandenen Kreativzentrum auf dem Gelände der ehemaligen Zinnwerke die Verdrängung. Es soll einem Neubau für Fundus und Werkstätten der Hamburgischen Staatsoper weichen. Betroffen wären 24 Kreative, talentierte Menschen mit ungewöhnlichen Biografien. Das Abendblatt stellt fünf von ihnen vor.

Antje Truelsen hat gleich drei Berufe. Ihr wirtschaftliches Standbein ist das Gestalten von Internetseiten auf einer Homepage für Studierende. Ihr Spielbein, wie sie sagt, ist die Bildhauerei. Dazu hilft sie, den Widerstand gegen die geplante Verdrängung zu organisieren. Das mag man Ehrenamt oder Praktikum nennen - es raubt Zeit und bringt kein Geld.

Die 34-Jährige hat in Dresden bildende Kunst studiert und stammt aus dem nordfriesischen Klanxbüll, das Hamburger von ihrem Weg auf die Insel Sylt kennen. In Dresden sei ihr Atelier auch schon gefährdet gewesen - und jetzt weiter nördlich an der Elbe wieder. "Ich möchte endlich mal ankommen und das Gefühl haben, keinen Neuanfang machen zu müssen", sagt sie.

An Wilhelmsburg liebt sie das "Dörfliche". "Man begegnet hier Bekannten öfter", sagt Antje Truelsen. An den wenigen zugänglichen Ufern der Elbinsel sammelt sie Treibgut - alles, was der Fluss so anspült. Daraus fertigt sie Wandreliefs. Die Gemeinschaft in den früheren Zinnwerken, von dem Kreativen in "Sinnwerke" umgetauft, sei ein Ort der Inspiration, sagt die Bildhauerin.

Die Gemeinschaft als Quelle für Ideen - das sieht auch Jörg Ehrnsberger, 38, als unersetzlich an. Eigentlich könnte der Seminarleiter der gemeinnützigen Bildungsinitiative Teach First Deutschland - Teil eines weltweiten Netzwerkes zur Unterstützung benachteiligter Kinder - Journalist und Autor, seinen digitalen Arbeitsplatz in jedem Büro der Stadt einrichten. Schreibtisch, Laptop, Steckdose - mehr braucht er nicht. In den "Sinnwerken" entwickle sich aber eine geistige Freiheit, erklärt Ehrnsberger, die man sich woanders nicht leisten könne. "Hier ist es niedrigschwelliger als in einem Gründerzentrum", sagt er. Die Kreativen aus unterschiedlichen Branchen helfen einander. Der Filmemacher hilft bei dem Bewerbungsvideo. "Schön geschrieben, sieht aber scheiße aus", modernisiert der Grafiker das Anschreiben. Manchmal, sagt Jörg Ehrnsberger, gelinge so in fünf Minuten, was er in fünf Tagen nicht im Internet recherchieren könnte.

Als Autor bringt Jörg Ehrnsberger die Kultur als Mittel zur Wirtschaftsförderung ein. Städte und Gemeinden erhalten von ihm ein Buch mit regional verankerten Kurzgeschichten von Einheimischen, das sie in Tourismus und Marketing einsetzen.

Jörg Ehrnsberger stammt aus Osnabrück, hat in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen als Lehrer für Deutsch, Biologie und Theater gearbeitet. Er hätte auch in Santiago de Chile leben können. Seine Frau stammt aus dem Andenstaat, hat bei der chilenischen Organisation von Teach First gearbeitet. Wilhelmsburg ist sein Zuhause geworden. "Ich bin aus dem Bus ausgestiegen und habe mir gedacht: Wow, hier muss ich hin!"

Sanne Neumuth, 31, hat in Bremen Kultur in Industriebrachen gebracht, bevor sie vor zwei Jahren nach Wilhelmsburg kam. Die Kulturwissenschaftlerin sorgte im Frühjahr mit einer Wohnwagen-Sauna für alle Elbinselbewohner für Schlagzeilen - sogar die türkische Zeitung Hürriyet berichtete. Gerade ist sie aus Palästina zurückgekehrt, dort hat Sanne Neumuth die Dresdner Sinfoniker begleitet und deren Pressearbeit übernommen. Die selbstständige Presse- und Öffentlichkeitsarbeiterin kämpft gegen die Vertreibung: "Der Opernfundus am Standort Veringkanal würde eine Abwertung des Stadtteils nach sich ziehen", sagt sie. Ihr Ehemann Nils Moje, er stammt aus Stade, möchte eine Siebdruckerei in den alten Zinnwerken einrichten. In den drei Monaten Urlaub, die der 33 Jahre alte Nautiker am Stück verbringt, schafft er sich so beim Schrauben seinen ganz persönlichen Freiraum.

Sven Trogus, 34, gehört zu der immer wichtiger werdenden Spezies, die Menschen bei der allmächtigen Suchmaschine Google auf die vorderen Plätze bringt. Er ist Webdesigner, entwirft Internetseiten für Unternehmen, die ein moderneres Erscheinungsbild suchen. Wie so viele andere Kreative hat Sven Trogus noch ein Spielbein, ist Musikwissenschaftler, der sich an der Universität Hamburg auch mit Informatik beschäftigt hat. "Ich wollte noch was Nützliches studieren" sagt er scherzend. Jetzt ernährt er seine Familie mit den Kenntnissen aus dem Zweitstudienfach. Er hat eine drei Jahre alte Tochter und einen sieben Monate alten Sohn. Als seine Tochter geboren wurde, ist er nach Wilhelmsburg gezogen. "Wir brauchten eine größere Wohnung" - die war auf der Elbinsel noch bezahlbar. Der Webdesigner schätzt den Freiraum in den alten Zinnwerken: "Hier ist keiner, der einem sagt, wir dürften hier keinen Spielplatz bauen. Bis jetzt ist alles so unbürokratisch", sagt Sven Trogus. Skeptisch blickt er auf die benachbarte Baustelle der Künstler-Community, ein Atelierprojekt der Hansestadt, das sich seit Jahren verzögert: "Sobald die Stadt eingreift, habe ich das Gefühl, das alles länger dauert und überreguliert ist."