Viele Mieter aus den abgerissenen Häusern der Frommestraße sind immer noch heimatlos und leben auf Kisten. Der stete Zuzug aus Hamburg hat das Wohnen in Lüneburg teurer gemacht.

Lüneburg . Silja Pootemans geht seit Anfang des Jahres andere Wege. Nicht nur, weil sie umgezogen ist. Auch, weil sie ihn nicht sehen will, den Schuttberg, der einmal ihr Zuhause war. Die Diplom-Sozialpädagogin wohnte in der Frommestraße, Hausnummer 4. Seit fast vier Monaten steht das Haus nicht mehr, und eine neue feste Bleibe hat die Lüneburgerin immer noch nicht.

Manchmal hat Thomas Oberländer Angst. Angst, dass es ihm irgendwann genauso gehen könnte wie seinen Nachbarn: Kündigung, Räumung, Umzug, Abriss. Nicht kurzfristig, aber mittelfristig. 40 Mieter der Frommestraße 4 und 5 haben das im vergangenen Jahr erlebt. Die kurze Straße steht im Senkungsgebiet der Stadt, die denkmalgeschützten Gründerzeithäuser waren laut Gutachten einsturzgefährdet - und eine Sanierung wäre laut Gutachten unwirtschaftlich gewesen.

Längst nicht alle der einstigen Mieter haben bislang eine feste Bleibe, der stete Zuzug aus Hamburg hat das Wohnen in Lüneburg teurer, Wohnungen rar gemacht.

Die Sozialarbeiterin Silja Pootemans hat fast neun Jahre in ihrer WG gelebt, schräge Wände und schiefe Böden haben sie nie gestört. Unter die Möbel kamen Kanthölzer, Suppenteller wurden eben nicht voll gefüllt. Als die Kündigung des Vermieters kam, klagte sie. Das Amtsgericht gab ihr zwar Recht, abgerissen wurde das Haus trotzdem.

Silja Pootemans ist nach der Räumung bei einer Freundin untergekommen, hat dort ein Viertel ihres alten Platzes zur Verfügung. Unterm Bett stehen voll gepackte Kartons, die WG-Möbel sind auf die Keller von Freunden verteilt. "Seit Dezember bin ich auf erfolgloser Wohnungssuche", erzählt die Erzieherin. Von Zufriedenheit mit der neuen Wohnsituation könne keine Rede sein.

In der "Fromme" war das anders. Es war ein Wohnen in Gemeinschaft, mit gegenseitiger Hilfe, ein Kollektiv außerhalb von Studentenwohnheimen, erklärten die Mieter immer wieder. Etwas, das es so in Lüneburg jetzt kaum noch gibt, wie sie immer wieder kritisierten.

Keine der alten WGs in ihrem Haus habe eine neue gemeinsame Wohnung gefunden, sagt Silja Pootemans. "Viele wohnen gezwungenermaßen am Stadtrand oder ziehen von einem ins nächste Provisorium. Einige sind immer noch auf verzweifelter Suche, die Lage ist bei vielen unbefriedigend und prekär.

Gewachsene, familiäre Strukturen wurden nachhaltig separiert, was die Stadt nach wie vor ignoriert. Vier Jahre haben wir für das Viertel gekämpft. Der Verlust ist unbeschreiblich." Die Stadt sagt, sie habe keine Wahl gehabt. "Wir konnten den Eigentümer nicht zur Sanierung zwingen", sagt Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD). Und der zweite ist abgetaucht, das Rathaus musste an seiner Stelle handeln. Vom Gespenst Gentrifizierung wollen Verwaltung und Rat nichts hören. Man habe kein Interesse an Luxussanierungen und Mietwucher im Viertel, im Gegenteil: Ein Sanierungsgebiet ist geplant. Den Mietern seien Wohnungen der städtischen Wohnungsbaugesellschaft angeboten worden.

Seit ihr einstiges Zuhause zu einem Schuttberg geworden ist, hat Silja Pootemans ihre alte Straße nicht mehr betreten. Thomas Oberländer betritt sie jeden Tag, wenn er nach Hause in die Nummer 6 kommt. "Seit die beiden Häuser weg sind, herrscht Tristesse", sagt der 26-Jährige im Dachgeschoss des rot verklinkerten Gebäudes. "Ich hoffe, dass das Loch in der Außenwand bei uns bald geflickt wird. Was mittelfristig geschieht, weiß ich natürlich nicht."

Sein Nachbargrundstück steht am 2. Juli zur Zwangsversteigerung beim Amtsgericht, es ist das von dem abgetauchten Eigentümer - an dessen Stelle die Stadt rund 260.000 Euro für Sicherung und Abriss seines Hauses bezahlt und dafür eine Sicherungshypothek ins Grundbuch eintragen lassen hat.

Wie es mit dem Schuttberg, dem ebenfalls denkmalgeschützten und beschädigten Tor zu Unterwelt - einer Gartenpforte von 1898 - und der Sperrung der Straße weitergehen soll, darüber berät die Stadt derzeit.

Für das rote Haus mit der Nummer 6 gibt das Rathaus derweil zunächst Entwarnung: Laut neuestem Gutachten ist das Haus von Thomas Oberländer und seinen Nachbarn standsicher - Ertüchtigungsmaßnahmen vorausgesetzt. Doch wie lange die Aussage gilt, weiß niemand. Denn die Senkungen im Untergrund gehen weiter. Mit derzeit 17 Zentimetern pro Jahr.