Einsturzgefährdeter Gründerzeitbau an der Frommestraße in Lüneburg wird abgerissen. Der erwartete Protest blieb allerdings aus.

Lüneburg . Tränen in den Augen hatte gestern Nachmittag niemand, und niemand hielt ein Protestplakat in die Höhe. Bitter ist der Moment trotzdem, als die Greifzange zum ersten Mal ins Mauerwerk des hellen Gründerzeitbaus Frommestraße 4 in Lüneburg beißt - und nach und nach die grün auf die Seitenwand gesprühten Buchstaben "Fromme fights" wegfrisst. Noch bis Ende der Woche werden die Abbrucharbeiten an dem Haus dauern, das Nachbargebäude folgt Anfang Januar.

Seit Spätsommer ist die Nachricht öffentlich: Der Eigentümer Jürgen Sallier darf das Haus abreißen lassen. Begründung: Die Sanierung des Denkmals wäre nicht wirtschaftlich gewesen. Auch wenn das die Mieter anders sahen, vor Gericht zogen: Die Bauverwaltung blieb bei ihrem von den Verwaltungsrichtern bestätigten Kurs. Das Haus ist einsturzgefährdet, der Besitzer kann nicht zur Sanierung gezwungen werden.

So war es gestern aber gar nicht der Abriss durch die Stadt, den die Stadtbaurätin mit ihren Mitarbeiterin begleitete, sondern der eines Investors.

Rede und Antwort stand trotzdem Heike Gundermann. Die Greifzange kracht in die Ziegel, der Staub kommt trotz Wassersprengern bis zu den Zuschauern im Park herüber. Die Stirn in Falten, die Augen klein, sieht ihr Mitarbeiter stumm dem Bagger zu. Die Chefin muss Stellung nehmen, auch wenn das alles hier nicht ihre Entscheidung war. Und schon gar nicht ihr Wunsch.

"Wir haben in allen Wohnungen der Frommestraße 6 und in vier Häusern der Hindenburgstraße eine Beweissicherung durchgeführt", sagt die Stadtbaurätin. "Überall, wo es der Prüfstatiker empfohlen hat. Um die Auflast, Erschütterungen und den Lärm möglichst gering zu halten, wurde ein relativ kleiner Bagger mit einem sehr langen Arm ausgewählt. Er greift Stück für Stück das Mauerwerk, niemals eine ganze Wand auf einmal. Es muss langsam gehen." Was an anderen Baustellen einen Tag dauert, wird im Lüneburger Senkungsgebiet noch bis Ende der Woche dauern.

Vielleicht kommen dann auch die ehemaligen Bewohner noch einmal in ihrer alten Straße vorbei. Vielleicht aber auch nicht. Gestern waren sie nicht da, als ihr einstiges Zuhause Schaufel für Schaufel zerrissen wurde. Längst nicht alle der jungen Leute aus den Häusern 4 und 5 haben eine neue feste Bleibe, sagt Nachbar Matthias Kellermann aus der Hindenburgstraße. Über Jahre hatte er gegen ein geplantes und mittlerweile verworfenes Neubauprojekt Salliers gekämpft, das neben die Nummer 4 gestellt werden sollte.

Er selbst hat diverse Umzugswagen gesteuert, "unsere Keller sind brechend voll, mindestens zehn Mieter sind bislang noch nicht untergekommen". Die Situation habe sich keinesfalls entschärft, die von der Stadt beworbenen Wohnungen in einem einstigen Seniorenheim seien mit 500 Euro erstens teuer und zweitens noch gar nicht fertig gestellt. "Lieber schräg als obdachlos", lautet denn auch der Spruch auf einem der letzten Transparente, die noch am Bauzaun wehen.

Während Kellermann die Greifzange beobachtet, wie sie Isolierung und Ziegelsteine vom hinteren rechten Giebel abbricht, sieht sich der Sprecher der Bürgerinitiative Fromme/Bastion bestätigt: "Wir hatten Recht. Wie man sieht, bricht nichts zusammen. Mit einem Zuganker hätte das Haus noch zwölf Jahre gehalten."

Dass die ganze Straße in den nächsten Jahren ihr Gesicht verlieren wird, denkt Jost Möller, der seit Kindertagen im Viertel wohnt. "Auch die Häuser 6 und 7 werden verschwinden, da gehe ich jede Wette ein. Die haben auch schon Risse. Wo es einmal eine Senkung gab, wird es immer wieder Senkungen geben, auch wenn die mal ein paar Jahre Ruhe geben." Mit einem "komischen Gefühl" hat sich an diesem Nachmittag Jens Mellenthin mit Töchterchen Emma und Vater Günther an die Frommestraße gestellt. "Seit 1984 wohnen wir hier", erzählt der Senior. "Es ist traurig, die Häuser sind schön. Aber was soll man machen, wenn sie nun einmal nicht zu retten sind. Ich kenne Leute, die sind schon vor Jahren nicht mehr durch die Frommestraße gefahren, weil ihnen das zu gefährlich war."

Riesige Risse haben sich in den vergangenen Jahren in den Asphalt gefressen, die Straße ist längst für jedweden Verkehr gesperrt. Frank Füllekrug aus der Hindenburgstraße geht fast jeden Tag mit Söhnchen Leif durch den Frommepark, heute sind die beiden stehen geblieben, damit der Kleine den größten Bagger seines Lebens beobachten kann. "Traurig ist das schon, ließ sich aber nicht vermeiden", sagt der Nachbar aus der Hindenburgstraße. "Wer will dafür schon die Verantwortung übernehmen?"

Wenn im Januar Lücken klaffen und Keller verfüllt worden sind, wird die Zeile zunächst einmal für längere Zeit brach liegen. Und im Bauhof der Stadt lagert der historisch wertvolle Löwenkopf aus Kalkstein von Nummer 5. Ihn hat die Bauverwaltung in Sicherheit gebracht - weil der Eigentümer in Mexiko abgetaucht ist. Jürgen Sallier hat derweil entschieden, von der Nummer 4 kein einziges Stück aufbewahren zu wollen. Jetzt landet das Haus auf dem Müll.