Nach dem Unglück von Titisee-Neustadt: Werkstätten in der Region stellen ihre Sicherheitskonzepte auf den Prüfstand.

Winsen/Harburg. Heike Batzdorf greift nach den Handgriffen des Rollstuhls von Christian Rohde und schiebt ihn aus der Tür der Werkstatt der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg in Winsen-Borstel. Mit ihnen verlassen Sabine Hinrichs und Lars Kaiser die gemeinsame Arbeitsstätte, indem die 38-Jährige ihre Hand auf den Rücken des vier Jahre älteren Kollegen legt.

"Wie bei einer Polonaise herausmarschiert, die Herrschaften!", sagt Peter Rathje mit einer Mischung aus Witz und Ernst in der Stimme aus seiner Beobachterposition. Für den Leiter der Winsener Einrichtung für rund 60 Erwachsene mit körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung gehören regelmäßige Trainings der direkten Fluchtwege ins Freie zum Alltag.

Die jüngste Alarmübung fand am Montagnachmittag statt. Zur gleichen Zeit wurde der Brandfall für die Beschäftigten einer Behindertenwerkstatt im baden-württembergischen Titisee-Neustadt trauriger Ernst. 13 Menschen mit Behinderungen im Alter von 28 bis 68 Jahren und eine 50 Jahre alte Betreuerin starben an den Folgen einer Explosion durch ausströmendes Propangas in einem Werkstattraum.

Das tragische Unglück im Schwarzwald hat die Betreiber ähnlicher Einrichtungen in der Region alarmiert. "Wir überprüfen derzeit unsere Sicherheitskonzepte", sagt Karen Schierhorn, Sprecherin der Hamburger Elbe-Werkstätten, die mit zwei Betrieben im Stadtteil Hausbruch sowie je einem in Marmstorf und am Binnenhafen insgesamt viermal im Bezirk Harburg vertreten ist. Beschäftigt sind dort rund 460 Menschen mit Behinderung.

"In jedem unserer 50 Häuser gibt es unter den etwa 680 Betreuern und Sozialarbeitern einen ehrenamtlichen Brandschutzhelfer, der einen Lehrgang bei der Feuerwehr mitgemacht hat", so Elbe-Sprecherin Schierhorn weiter. "Je nach Auffassungsgabe der behinderten Beschäftigten führen sie unterschiedlich oft Übungen durch." Wichtigstes Ziel sei es, die Fluchtwege aus den Gefahrenbereichen kennenzulernen.

Gekennzeichnet sind die Notausgänge wie auch in anderen Gebäuden üblich mit weißem Piktogramm auf grünem Leuchtschild. Um den Weg durch ein näher gelegenes rauchfreies Treppenhaus zu wählen, signalisiert ein grellrotes Licht dagegen Gefahr. Panik sollen die Alarmzeichen allerdings nicht verursachen, weshalb die Sirenen in den Elbe-Werkstätten nicht in maximaler Lautstärke aufheulen.

"Wir haben in den vergangenen 20 Jahren viel dazugelernt", sagt Jürgen Sankuhl, einer von drei hauptamtlichen Brandschutzbeauftragten des Hamburger Werkstättenbetreibers. "Wir wollen sicherstellen, dass die Rettungskräfte der Feuerwehr im Ernstfall schnell zum Brandherd gelangen können." In Lebensgefahr geraten zum Beispiel verängstigte Behinderte, die sich in dem brennenden Gebäude verstecken wollen oder vor Aufregung in einer Schockstarre verharren.

Die besonders einfühlsame Ansprache der zu rettenden Empfänger unterscheidet die Evakuierung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen von der Räumung gewöhnlicher Betriebshallen. "Für die Behindertenwerkstätten gilt die Bauordnung für Sonderbauten, die auch beispielsweise für Kindertagesstätten und Altenwohnheime gilt", sagt Bernhard Frosdorfer. Der Sprecher der Verwaltung des Landkreises Harburg weiter: "Ziel der Vorschriften ist es jeweils, möglichst kurze Rettungswege zu schaffen."

In der Praxis bedeutet das, dass ebenerdige Räume einen direkten Ausgang ins Freie haben sollten. Von den Obergeschossen müssen Treppen möglichst schnell ins Freie führen, die auch beim feuerbedingten Ausfall der Fahrstühle noch breit genug sind. "Die entsprechenden Details muss der Bauherr in seinem Brandschutzkonzept für den Neubau nachweisen", so der Sprecher der Kreisverwaltung weiter. Frosdorfer: "Ansonsten sind weitere Auflagen der Genehmigungsbehörde möglich."

Doch auch die strengsten Vorschriften greifen nur, wenn die Benutzer der Gebäude sich an die Verhaltensregeln halten. "Ich reagiere sehr sauer, wenn ich sehe, dass jemand eine Brandschutztür durch einen Keil offen hält", sagt Peter Rathje. Der Werkstattleiter in Winsen-Borstel ist seit mehr als drei Jahrzehnten ehrenamtlicher Feuerwehrmann. Die Erfahrungen mit brenzligen Situationen in seiner Freizeit nutzt er auch beim Beraten seiner Kollegen zum Brandschutz.

"Ganz wichtig ist es beispielsweise, dass immer mindestens ein Betreuer bei den Gruppen am Sammelpunkt bleibt", sagt Rathje. Einerseits sei es im Ernstfall von hoher Bedeutung, dass die eintreffenden Feuerwehrleute exakte Informationen über vermisste Personen und ihre letzten Aufenthaltsorte erhalten. "Außerdem müssen die Betreuer verhindern, dass einer der Beschäftigten zurück in das verrauchte Gebäude läuft, um sich ein Pausenbrot oder eine Jacke zu holen."

Die 18- bis 65-Jährigen in der Winsener Lebenshilfe-Werkstatt sind derzeit schwer damit beschäftigt, Lübecker Marzipanhappen für das Weihnachtsgeschäft zu verpacken. Doch heute Nachmittag soll die Arbeit kurz ruhen, damit Peter Rathje einen Lehrfilm über das Entstehen von Bränden zeigen kann. "Auch unsere Alarmübungen sind wichtig und zeigen immer neue Schwachstellen auf." Am Montag bemerkte Rathje, dass eine gehörlose Frau in der Gruppe den Feueralarm nicht wahrnahm. Daher soll es nun auch eine optische Warnung durch Blitze geben.