Die Ausgrabungen geben Einblicke in das Leben vor 800 Jahren. Philip Lüth und die 16 Grabungshelfer befördern täglich Neues ans Licht.

Harburg. "Na, habt ihr schon Gold gefunden?" Diese Frage hört Philip Lüth immer wieder. So oft, dass der 38 Jahre alte Archäologe sie nicht mehr witzig findet. Aber der Leiter der archäologischen Ausgrabung an der Harburger Schlossstraße weiß, dass Passanten mit Hilfe des abgedroschenen Späßchens das Gespräch suchen, weil sie darauf brennen, Neuigkeiten aus der Harburger Geschichte zu erfahren. Und Neues befördern Philip Lüth und die 16 Grabungshelfer jeden Tag aus dem Mittelalter ans Licht: Seit Beginn der Ausgrabung Ende Februar hat der Archäologe immerhin rund 6000 Fundnummern auf dem 300 Quadratmeter großen Grabungsschnitt an der Schlossstraße vergeben. Meist sind es 500 bis 600 Jahre alte Scherben - das typische Zivilisationsrelikt. Bei der Ausgrabung auf der Schlossinsel seien es 4000 Fundstücke.

Vor kurzem machten die Archäologen eine besondere Entdeckung im Schlamm: einen kleinen Spielzeug-Ritter aus Ton, etwa 700 bis 800 Jahre alt. "Von diesen Figuren sind in Deutschland nur vier oder fünf bekannt", sagt Philip Lüth fasziniert. Eine davon sei in Lübeck gefunden worden, der Gründungsstadt des mächtigen Handelsbündnisses Hanse - und jetzt genau so eine Figur in Harburg! Kinder des gehobenen Bürgertums oder möglicherweise sogar des Adels hätten damit gespielt, ist sich Grabungsleiter Lüth sicher.

Ungewöhnlich viele sogenannte Militaria haben die Grabungshelfer an der Schlossstraße gefunden. Das sind historische Artefakte, die mit Soldatentum und Militärdienst in Zusammenhang stehen. Sie sind Belege für Auswirkungen der Festung Harburg auf die Siedlung. Philip Lüth hat Hinweise darauf, dass in Harburg Armbruste produziert worden sind. Entdeckt hat er auch Teile von Schusswaffen, Stücke von Musketen. Auch diese seien offensichtlich in Harburg hergestellt worden.

Der Spielzeug-Ritter ist ein Hinweis auf wohlhabende Einwohner. Chinesisches Porzellan, das an der Schlossstraße entdeckt wurde, ebenfalls. "Das musste man sich leisten können", sagt Philip Lüth. Wegen der Hinweise auf Reichtum werden Historiker möglicherweise die bisherige Einschätzung ändern müssen, dass Harburg im Mittelalter eher eine unwichtige Stadt gewesen sei. "Wir sind erstaunt", so der Archäologe, "wie viel hochwertige Fundstücke wir aus dem Boden herausgeholt haben."

Der feuchte Boden an der Schlossstraße konserviert die 700 bis 800 Jahre alten Fundstücke bestens. Ein Messer mit Messingbeschlägen, eines der neuen Fundstücke, wirkt so, als ob man damit heute noch schneiden oder schnitzen könnte. Die Feuchtbodenerhaltung in Harburg sei so exzellent wie selten in anderen mittelalterlichen Städten Deutschlands, schwärmt Philip Lüth. Aber auch, wenn der Grabungsleiter mittlerweile als Running Gag zu Beginn eines jeden Arbeitstages die Entdeckung eines Münzschatzes von seinem Team einfordert, jagen die Wissenschaftler nicht nach materiellen Dingen. "Wir sind nicht hinter Funden her, sondern suchen nach Erkenntnissen", sagt Philip Lüth.

Die Archäologen wollen die Auswirkung der Burg auf die Entwicklung der Siedlung erforschen. Die Wissenschaftler haben nur ganz wenige Hinweise darauf, wie sich der Grundbesitz in der frühen Siedlungsgeschichte Harburg entwickelt hat.

Entlang der mit Holzbohlen befestigten Schlossstraße siedelten sich nahe der "Horeburg" Handwerker, Bauern und Markthändler an. Sie errichteten Häuser - im Laufe der Jahrhunderte in vielen Schichten übereinander. Diese Erdschichten tragen Archäologen und Grabungshelfer Meter für Meter vorsichtig ab. An den Schichten bis zu vier Meter Tiefe können die Archäologen bis in das 12. Jahrhundert zurücksehen. Viele entdeckte Schiffteile geben Hinweise auf Schiffsbau.

Bis Mitte 2014 wird Philip Lüth an insgesamt vier Grabungsschnitten nach Erkenntnissen zur frühen Harburger Siedlungsgeschichte suchen. Von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang durchsuchen die Grabungshelfer in einem Wettlauf mit der Zeit das Erdreich. Ein früher Wintereinbruch im November wäre katastrophal, sagt Philip Lüth, dann würde die Ausgrabung still stehen. Der Archäologe und die Grabungshelfer sind keine Mimosen. "Ab null Grad", sagt der Wissenschaftler, "fängt es an, kalt zu werden."

Um sieben Uhr morgens, wenn die Sonne langsam aufgeht, ist Arbeitsbeginn an der Grube in der Schlossstraße. Für Philip Lüth bedeutet dies, um 4.30 Uhr aufzustehen. Täglich pendelt er mit dem Auto zwischen seinem Wohnort Kiel und Harburg. Für zwei Jahre hat das Archäologische Museum Hamburg den Kieler Spezialisten für Städte im Mittelalter als Ausgrabungsleiter engagiert. Wo er danach arbeitet, weiß er noch nicht. Das ist Alltag in der Branche. "Die zwei Jahre bedeuten die längste Vertragslaufzeit, die ich je hatte", sagt der promovierte Wissenschaftler, der eine Zusatzausbildung als Forschungstaucher hat.

Etwa 1000 Archäologen in Deutschland hätten überhaupt eine feste Stelle. Dazu kämen 1000 bis 2000 Honorarkräfte, die hauptberuflich in der Archäologie tätig sind. Deutlich weniger als fünf Prozent der Absolventen von den Universitäten, schätzt Philip Lüth, könnten auf eine feste Stelle hoffen. Ein Archäologe müsse Überzeugungstäter sein, sagt er. Was so faszinierend an der Erkenntnissuche in unserer Geschichte ist, formuliert Philip Lüth so: "Ich habe jeden Tag die Chance auf einen Treffer."

Führungen über die Ausgrabung, jeden Donnerstag 14 bis 15 Uhr, Treffpunkt: TuTech-Haus, Harburger Schlossstraße 6.