Die Brieftauben des 54-jährigen Buxtehuders sind von London nach Hause geflogen, eine von ihnen in rekordverdächtigem Tempo.

Buxtehude. Im Schlag ist sie nur eine Nummer unter vielen, 01966-08-623 der etwas sperrige Name. Und doch genießt diese Taube im Moment so etwas wie Heldenstatus. Weil sie bei den Olympischen Spielen in London dabei gewesen ist. Vor allem aber, weil sie von dort so schnell nach Hause zurückgekehrt ist wie keine zweite aus Niedersachsen. 20 Stunden, 59 Minuten und 42 Sekunden hat sie für die 718 Kilometer und 336 Meter gebraucht, die den Startplatz nahe der britischen Metropole vom Buxtehuder Stadtteil Dammhausen trennen. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 34 Kilometern pro Stunde. "Ja", sagt Züchter Heinz Oldenburg, und es klingt stolz, "man muss auch Tauben haben, denen man diese Entfernung zutraut." Hat er. 01966-08-623 ist Züchters Liebling.

Eine schmale Eisenstiege führt zum Taubenschlag hinauf, der als zweite Etage auf einer Doppelgarage thront. Hier sind Oldenburgs Brieftauben, momentan 150 an der Zahl, zu Hause. Hier sitzt sie nun auf seiner Schulter, die Schnelle mit der langen Nummer. Der Züchter streicht über ihr blaugrau schimmerndes Gefieder. Er ist gerade nach Hause gekommen aus Hannover. Dort hat ihm Landwirtschaftsminister Gert Lindemann in Anerkennung des London-Fluges eine Ehrenurkunde übereicht und die Hand gedrückt. Heinz Oldenburgs Olympia-Goldmedaille. Seine Täubchen sind unterdessen allein daheim geblieben.

Normalerweise läuft es andersherum, ist Heinz Oldenburg derjenige, der zu Hause bleibt. "Meine Tauben haben schon viel von der Welt gesehen", sagt der 54-Jährige, zählt beispielhaft Paris, Barcelona und Warschau auf und fügt noch lakonisch hinzu: "Ich nicht."

Nun also auch noch London. Sechs seiner Tauben sind bei Olympia gewesen. Heinz Oldenburg nicht. Er hat sich am 8. August, einem Mittwoch, von ihnen verabschiedet, ein Sammeltransporter hat alle angemeldeten Brieftauben aus der Region nach England gebracht. Dort sind sie am Morgen des 11. August, einen Tag vor dem Ende der Sommerspiele, in Bovingdon 30 Kilometer nordwestlich des Londoner Zentrums gestartet - 6500 Brieftauben aus ganz Europa. Im Protokoll über "Flug-Nr. F00/12" steht: "Start: 9.15 Uhr Ortszeit. Wetter: Heiter bei leicht wechselnden Winden."

Heinz Oldenburg hat in der folgenden Nacht kein Auge zugetan. "Bei solchen Flügen kann ich nicht schlafen", sagt er. Also ist der Verwaltungsbeamte in der Morgendämmerung wieder aufgestanden, hinauf zum Schlag geklettert und hat begonnen zu putzen. Um viertel nach sieben hat er dann zufällig aus dem Fenster schaut. "Ich hab' nur gesehen: Da steht sie. In so einem Moment fällt einem glatt der Eimer aus der Hand." Das ist es, was ihn seit Jahrzehnten an den Brieftauben fasziniert: "Ich habe Respekt davor, dass sie von überall zurückkommen, und zwar oft schneller als ein Auto."

7.14.42 Uhr lautet die offizielle Ankunftszeit am Morgen des 12. August. Dass sie so exakt ermittelt werden kann, ist einer technischen Revolution im Brieftaubenwesen zu verdanken. Alle Brieftauben tragen heutzutage einen Ring mit Transponder darin am Bein. Nimmt eine Taube an einem Wettbewerb teil, wird sie zuvor über ein graues Plastikbrett mit integrierter Antenne gezogen - das sieht aus wie an einer Supermarktkasse - und so in einem Computersystem erfasst. Der Auflass, wie Züchter den Start nennen, wird ebenfalls sekundengenau festgehalten. Eine Antenne am Schlag des Züchters registriert schließlich exakt die Ankunftszeit in der Heimat.

Als Heinz Oldenburg vor etwa 50 Jahren begonnen hat, sich mit Brieftauben zu beschäftigen, sind solche Methoden undenkbar gewesen. "Damals hatten die Tauben einen Ring um, den man abnehmen und in eine verplombte Stoppuhr eindrehen musste", sagt er. Vielleicht kommt es auch daher, dass er während großer Flüge nicht schläft. Wer in früheren Zeiten nicht bemerkte, dass seine Taube eingetroffen war, verschenkte in der Wertung kostbare Sekunden, Minuten oder Stunden.

Heinz Oldenburg hält es im Nachhinein für möglich, dass seine Taube noch schneller hätte sein können. "Aber ausgerechnet an dem Wochenende hatten wir strengen Ostwind." Andererseits ist er erstaunt, dass sie so schnell gewesen ist. "Alle mussten übers Meer, das kannten sie noch nicht. Und weil das Zielgebiet so riesengroß war, musste jedes Tier von Anfang an seinen eigenen Weg nehmen." Wer sich erst mal einer Reisegruppe mit einem anderen Ziel als dem eigenen anschließt und das zu spät bemerkt, hat auch als Taube das Nachsehen und muss dann unnötige Umwege in Kauf nehmen. Manchmal wüsste Oldenburg gern, wo seine Tauben so überall gewesen sind - zum Beispiel die, die mit zweiwöchiger Verspätung in Buxtehude eingetroffen ist. Oder die, die er bis heute vermisst. Auch das ließe sich inzwischen mithilfe eines kleinen Senders am Bein feststellen, aber diese Technologie hat sich in Züchterkreisen noch nicht durchgesetzt.