Es ist Schluss mit der Atomkraft. Die Demonstranten fahren trotzdem zur Großdemo ins Wendland. Sie glauben der Politik nicht.

Dannenberg. Rucksack, Mütze, Trecking-Schuhe und gelbe Atomkraft-nein-danke-Fahnen: Die Gruppe auf dem ehemaligen Busparkplatz der Landesgartenschau in Winsen ist für ihren Tag im Widerstand gerüstet. Die Bundesregierung hat die Energiewende verkündet. Die Suche nach einem Endlager beginnt von vorn. Aber hier in Winsen stehen 16 Demonstranten abfahrbereit und denken: "Trotzdem!" Sie glauben der Politik einfach nicht.

9 Uhr: Der Bus, den der Kreisverband Harburg-Land der Grünen organisiert hatte, fährt auf den Parkplatz. Vera Sager, sagt zu ihrer Mutter: "Du kannst sehen, du gehst vor." Die 25-Jährige aus Asendorf trägt einen Blindenstock in der rechten Hand. "Sie ist direkt betroffen durch Tschernobyl", sagt die Mutter. Als sich der radioaktive Staub im April 1986 nach der Katastrophe in Tschernobyl in ganz Europa verbreitete, verbrachte Karin Sager - damals hochschwanger - ihren Urlaub im Altmühltal.

Sie glaubt, Tschernobyl sei schuld an den blinden Augen ihrer Tochter und daran, dass drei Metallstangen in ihrer Wirbelsäule stecken, um den Rücken gerade zu halten. "Ich bin gegen jede Art der Atomkraftnutzung und tue alles dagegen", sagt Karin Sager. "Ich verlasse mich nicht auf den angekündigten Atomausstieg."

Der Bus legt zwei Stopps ein - in Salzhausen und Kirchgellersen. Busklappe auf. Schilder mit der Aufschrift "Tag X - Wir stellen uns quer" und gelbe Fahnen rein. Klappe zu. Weiter geht es auf der Landstraße 216 Richtung Dannenberg.

Insgesamt 50 Demonstranten sitzen am Ende im Bus, darunter Mischlingshund Anton. Es ist eine bunte Gruppe. Graubärtige mit Jutebeutel und junge Menschen, die gar nicht wissen, was sie da in Dannenberg erwartet.

Joachim Bartels, Geschäftsführer des Grünen-Kreisverbandes Harburg-Land, greift zum Mikrofon.

Der Mann mit den wirren Haaren stimmt die Demonstranten vorsorglich darauf ein, dass heute nicht alles nach Plan laufen wird. Klar ist: Es soll zwei Demonstrationszüge geben, die sich im Westen und im Osten in Dannenberg formieren und dann zum Versammlungspunkt marschieren, wo die Großkundgebung stattfinden soll. Um etwa 17 Uhr ist die Rückfahrt geplant.

Der grüne Mann aus Eyendorf ist ein Demonstrant der ersten Stunde. Er spricht von großen Schlachten und ersten Siegen. Er will eine "sichere Stelle" als Endlager und nicht den Salzstock in Gorleben, wo Wassereinbrüche drohen.

Kurz vor Dahlenberg sind die ersten Einsatzwagen der Polizei zu sehen. Der Bus rollt an einem Camp vorbei. Davor ist ein riesiges gelbes X aufgebaut - das Erkennungszeichen des Widerstands. In Metzingen ist der erste Polizeikonvoi mit Wasserwerfern zu sehen. Bullenschweine ist auf eine Hauswand geschmiert. "Das ist ja wie im Krieg", sagt eine Mitreisende im Bus.

11 Uhr Ankunft. Der Bus parkt am Prabstorfer Weg. Bartels ist beunruhigt. Es lief alles zu mühelos. Im Gegensatz zu 2010 kommen die Demonstranten nah an das Kundgebungsgelände heran. Kommen doch weitaus weniger Menschen als erhofft? Die Protestler strömen aus, machen sich auf den Weg in den Ort. Unter ihnen ist auch das Ehepaar Bernstorff mit Tochter Lena aus Salzhausen. "Wenn wir weiterhin an der Kernenergie festhalten, übergeben wir den Kindern kein gutes Erbe", sagt die vierfache Mutter Christine Bernstorff, 60. Tochter Lena, 16, die sich heute zum ersten Mal unter die Widerständler mischt, verfolgt aufmerksam den Castor-Ticker und hat nicht vor, mit dem Bus zurückzufahren. Isomatte und Schlafsack stecken im Rucksack. Vater Ulli, 63, macht sich keine Sorgen. "Unsere anderen Kinder sind schon eingekesselt gewesen oder nass geworden", sagt der Mann mit Bartkranz und Birkenstock-Schuhen.

13 Uhr Der westliche Demonstrationszug setzt sich in Bewegung. Die Traktoren vorneweg. Ingo Rieckmann, 39, aus Döhle, seine Lebensgefährten Meike Wunderlich, 35, aus Hamburg-Altona und Lars Möhrke, 34, aus Toppenstedt reihen sich ein. Überall Fahnen, Fahnen, Fahnen. Vor ihnen marschieren Bongotrommler. An der Seite schneiden als Clowns verkleidete Demonstranten Grimassen. "Es wird so lax mit dem Atommüll umgegangen", sagt Ingo Rieckmann. Die Entscheidung für Gorleben als Endlager in den 70er-Jahren sei völlig willkürlich gewesen. Auch er traut der Politik nicht mehr und spricht von geschönten Gutachten.

15 Uhr Auf dem Acker an der Landstraße 191, wo die Großkundgebung stattfindet, halten die drei eine Brotpause ab. Sie sind zufrieden: 452 Traktoren und rund 25 000 Menschen sind gekommen, haben die Veranstalter gerade verkündet. Die Redner auf der Bühne haben sich inzwischen heiser geredet.

17 Uhr Rückfahrt. Die Gruppe ist erschöpft. Lena Bernstorff ist tatsächlich im Wendland geblieben. "Leider", sagt die Mutter. Es wird langsam still im Bus.

19 Uhr Ankunft in Winsen. "In die Badewanne oder auf die Gleise?", fragt Rafael Wehrspann, 39, aus Winsen. Nach einigem Hin und Her beschließt die Gruppe, sich doch nicht noch zu den Schienen aufzumachen. "Abbruch!"