Nicolae Grejdieru aus Moldawien ist die gute Seele von Neuwiedenthal. Er holt Jugendliche von der Straße und sorgt für Ruhe im einstigen Brennpunkt.

Hamburg. Nicolae Grejdieru ist nicht von hier. Das kann man nicht nur denken, man kann es auch sagen, es verletzt ihn nicht, denn so hat er sich vorgestellt, an einem Freitagmorgen im März: "Ich heiße Nicolae Grejdieru. Ich komme aus Moldawien." Ein Mann in Jeans und mit grauen Haaren, der leise spricht, wenn er erzählt. Nicolae Grejdieru, 54, hat eine Menge zu erzählen. Vor zehn Jahren hat er Moldawien verlassen, da war er Polizeichef und Mitte 40, ein studierter Jurist. Mit seiner Familie fuhr er per Bus nach Hamburg, das gesamte Hab und Gut in ein paar Koffern. In Hausbruch lebten bereits Verwandte seiner Frau, zunächst ging es allerdings in eine Wohnunterkunft in Barmbek.

Es gibt Menschen, vor deren Lebensläufen steht man und staunt, weil kaum vorstellbar ist, wie sich das angefühlt hat: mit Mitte 40 noch einmal neu zu beginnen. Was romantisch klingt, aber bestimmt nie so war für einen, dem früher fünf Kommissariate gehorcht haben und plötzlich nicht einmal mehr das Ende der Sätze.

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Heute spricht Nicolae Grejdieru sehr gut Deutsch. Er lebt in Neuwiedenthal, seine Frau arbeitet als Porzellanmalerin in Harburg, zwei seiner Söhne machen eine Ausbildung, ein dritter studiert. Grejdieru selbst ist Sozialarbeiter. In Hausbruch kümmert er sich vor allem um Spätaussiedler, von denen er sagt: "Ich weiß, wie Migranten sich fühlen. Ich bin doch schließlich selber einer." Fast die Hälfte der Einwohner von Hausbruch hat einen Migrationshintergrund: Die meisten kommenaus Osteuropa, aus entlegenen kasachischen Dörfern, "auch wenn sie nach Moskau gehen würden, müsste man sie dort integrieren", sagt Grejdieru. Jeden Tag spricht er mit ihnen, hält den Kontakt, er weiß um ihre Sorgen. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass Nicolae Grejdieru die gute Seele von Neuwiedenthal ist.

"Seitdem es ihn gibt, ist es merklich ruhiger geworden bei uns", sagt Nina von Ohlen. Sie ist Projektleiterin bei IN VIA, einem Fachverband der Caritas mit Sitz in Hamburg. Sie war dabei, als sich IN VIA vor sieben Jahren für Nicolae Grejdieru entschied, als es auf einem Spielplatz in Neuwiedenthal Probleme gab. "Bis spät in die Nacht lärmten da junge Männer, spielten Karten und tranken - es war klar, da entsteht gerade ein neuer Brennpunkt", sagt sie.

Wenn Nina von Ohlen erzählt, warum die Wahl damals auf Nicolae Grejdieru fiel, kommt sie aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Sie erwähnt dann seine Zuverlässigkeit und seine Ruhe, seinen unbezahlbaren Einsatz. Wenn Nicolae Grejdieru von seiner Arbeit erzählt, dann erwähnt er erst einmal all die Sozialarbeiter, die gemeinsam mit ihm im Stadtteil arbeiten. "Das ehrt dich sehr", sagt Nina vonOhlen und schüttelt lächelnd den Kopf, "aber es gibt hier niemanden wie dich, Nicolae." Niemanden, der wie er fließend Russisch spricht; niemanden, der so liebevoll und gleichzeitig konsequent ist. Vor den betrunkenen Russen vom Stremelkamp hatte er keine Angst, und man glaubt ihm das sofort. Wer einmal Polizeichef in Moldawien war, der hat wahrscheinlich schon ziemlich viel gesehen. Immer wieder ging er am Spielplatz vorbei, sprach mit den Jugendlichen, sie fassten Vertrauen zu ihm. Nach wenigen Monaten war der Spuk vorbei. Kürzlich hat der Letzte vonihnen eine Ausbildung begonnen - vermittelt durch Nicolae Grejdieru.

Am Nachmittag ist es kalt in Neuwiedenthal, der Wind rüttelt an den Balkonverkleidungen der Hochhäuser. Der Stadtteil Hausbruch hat eine jahrhundertelange Tradition, im 16. Jahrhundert wurde der Ort erstmals urkundlich erwähnt. Bis heute gibt es einen richtigen alten Ortskern, Häuser mit Reetdächern und alteingesessene Familien. Und es gibt den Ortsteil Neuwiedenthal. Mit Hochhäusern und Zweckbauten, die oft trostlos aussehen, auch wenn es drum herum viel Grün gibt. Im Grunde hat Hausbruch das Wesen einer Großstadt, zusammengefasst auf ein paar Quadratkilometer: Gras und Beton, junge Menschen und alte, Familien und Entwurzelte. "Heute ist der Tag der Armee in Russland", sagt Nicolae Grejdieru. "Die Männer fangen früh an zu trinken, dann gehen sie raus." Im Park bei den Hochhäusern bleibt ein Mann stehen. Er könnte Ende 30 sein, vielleicht auch schon 50. Er trägt eine altmodische Wolljacke, das weiße Hemd ist am Kragen zerschlissen. "Dobre dien, Nicolae", sagt er und schwankt angetrunken. "Hallo Vasile", sagt Grejdieru, er schüttelt dem Mann die Hand. Der Mann spricht russisch, "sag es auf Deutsch", unterbricht ihn Grejdieru, "du musst es üben". In gebrochenem Deutsch erzählt der Mann von seinem Sohn, der nichts mehr mit ihm zu tun haben will, von einer Tochter, die nicht ans Telefon geht. Der Mann winkt ab, er zieht an seiner Zigarette. "Ich rufe deine Tochter für dich an, mit mir wird sie sprechen", sagtNicolae Grejdieru. Da schaut ihn der Mann lange an. "So können wir es machen", sagt er und greift sich ans Herz. "Ist gut, Vasile, ich weiß. Ich werde morgen zu dir kommen."

Es ist eine Szene von vielen, die sich an diesem Nachmittag in Neuwiedenthal abspielen, rund um das Einkaufszentrum am Rehrstieg. Im Juni 2010 lieferten sich Jugendliche hier eine Massenschlägerei mit der Polizei. Als Grejdieru davon erfuhr, fragte er dieJugendlichen von Neuwiedenthal, wie es dazu hatte kommen können. "Aber das waren nicht wir", sagten sie, "das waren Wilhelmsburger." Die Jugendlichen von Neuwiedenthal vertrauen Nicolae Grejdieru. Für sie ist er einer von ihnen. Die Polizei bestätigte später die Herkunft der Täter. Auch sie vertraut Grejdieru. Irgendwie ist er ja auch einer von ihnen.

Als Grejdieru in Neuwiedenthal als Sozialarbeiter anfing, heftete er Zettel an Häuserwände und verteilte sie auf Spielplätzen. "Wir machen ein Fußballturnier", stand handschriftlich darauf, "kommt alle vorbei." Am Tag darauf standen über 60 Jugendliche am Bolzplatz; sie spielten zusammen, bis es dunkel wurde. Keiner wollte nach Hause. Inzwischen hat er jugendamtliche Unterstützung: Jeden Montag um halb sieben gibt es ein Training in der Uwe-Seeler-Halle, das Amt zahlt die Miete.

An diesem Montagabend sind zehn junge Männer erschienen, sie haben hohe Wangenknochen und slawische Nachnamen. Für jeden dieser Jugendlichen würde Nicolae Grejdieru die Hand ins Feuer legen. Und vielleicht ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass das jemand für sie tut. "Wenn sie eine Schlägerei sehen, dann würden sie dazwischengehen, das glaube ich ganz fest." Er schaut aufs Spielfeld. Laut ist es, und es riecht nach Turnhalle und Schweiß. "Immer spielen sie durch, 90 Minuten ohne Pause", sagt er, schüttelt den Kopf. Zuweilen kommen so viele, dass sie zwei Reserveteams bilden. Kommende Saison wird eine Mannschaft angemeldet, bei der Hausbruch-Neugrabener Turnerschaft, 20 junge Männer haben sich bereits gemeldet. Es könnte die Saison ihres Lebens werden.