Alle bisherigen Versuche, die Tiere vom gemeindeeigenen Friedhof zu vertreiben, sind fehlgeschlagen. Jetzt soll ein hoher Zaun her.

Neu Wulmstorf. "Das ist kein Friedhof, sondern ein Wildgehege", schimpft Dieter Franke. Dem 70-Jährigen geht es wie vielen Besuchern des gemeindeeigenen Friedhofes in Neu Wulmstorf. Rehe fressen die Blumen auf, die Trauergäste auf die Gräber legen. Dreimal haben Dieter Franke und seine Frau Irmgard, 78, Eisbegonien und Stiefmütterchen gepflanzt - stets blieben nur die Stiele des Grabschmucks übrig. Die Friedhofsbesucher in Neu Wulmstorf sind traurig und wütend zugleich. Denn der Gemeinde gelingt es seit mehr als einem Jahr nicht, die Rehe von den Gräbern fernzuhalten.

Inzwischen hat Manfred Karthoff (FDP) die Rehplage mit einer Anfrage an die Verwaltung wieder in den Blickpunkt des Gemeinderates gebracht. Die Antwort zeigt, eine Lösung verzögert sich: Eigentlich hatte die Gemeinde vor, bis Ende April einen neuen zwei Meter hohen Zaun um den Friedhof ziehen zu lassen, den Rehe nicht mehr überspringen können. 20 000 Euro hat der Gemeinderat dafür bereitgestellt. Aber bei einer ersten Ausschreibung wollte nicht eine einzige Firma den Auftrag haben. Offenbar laufen die Geschäfte gut, dass die Unternehmen lukrativere Aufträge haben. Neu Wulmstorf will nun den Friedhofszaun zum zweiten Mal ausschreiben. "Vermutlich werden wir aber den Termin Ende April nicht mehr halten können", sagt Michael Kröger, der Öffentlichkeitsarbeiter der Gemeinde.

Die Gemeinde ist nicht untätig gewesen. "Wir nehmen das Problem sehr ernst", versichert Michael Kröger. Einmal hätten 15 bis 20 Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung und Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr versucht, die Wildtiere vom Friedhofsgelände zu scheuchen - ohne Erfolg. Die Rehe seien einfach über die Menschenkette hinweg gesprungen. Offenbar haben die Tiere die Scheu vor dem Menschen bereits abgelegt.

Es sollen vier Rehe sein, die sich dauerhaft auf dem Neu Wulmstorfer Friedhof tummeln. Sie sind aus dem benachbarten Naturschutzgebiet gekommen und überspringen den 1,40 Meter hohen Zaun im Nordwesten. Mittlerweile gilt als nahezu sicher, dass die Rehe den Friedhof nicht nur als "Restaurant" in den Abendstunden aufsuchen, sondern dauerhaft dort leben. Mit der Wahl ihres Lebensraumes haben die Rehe den richtigen Riecher bewiesen: Die Jagd auf dem Friedhof ist verboten, und die Menschen legen ihnen Köstlichkeiten sozusagen auf den Teller. Besonders Rosen und Stiefmütterchen fressen sie gern. "Die grasen den Friedhof regelrecht ab", sagt Dieter Franke. Er selbst hat eine Gruppe von drei Rehen gesehen.

Der Friedhof an der Lutherkirche in Neu Wulmstorf ist 72 000 Quadratmeter groß und bietet genug Rückzugsfläche - ein Park, in dem zwei Drittel der Gesamtfläche Grünfläche ist. Schon im vergangenen Jahr hat ein Friedhofsgärtner beobachtet, dass es sich die Rehe auf dem hinteren Teil des Geländes in Richtung Moorweg eingerichtet hätten und dort sogar tagsüber in der Sonne stünden. Auch Manfred Karthoff hat die Tiere zu Gesicht bekommen: "Sie ziehen am Zaun entlang", sagt er, "als ob ein Reh den anderen zeigt, wo die richtige Stelle zum Überqueren ist."

+++ Neu Wulmstorf will Friedhof wegen einer Rehplage einzäunen +++

Rehe haben bei Neu Wulmstorf in den benachbarten Naturschutzgebieten Fischbeker Heide und Wulmstorfer Heide, dem früheren Truppenübungsplatz der Röttiger-Kaserne, eigentlich einen großen natürlichen Lebensraum. Im vergangenen Jahr haben Experten vermutet, dass nach einem harten Winter die Nahrung so akut knapp war, dass die Rehe ihre Scheu abgelegt und sich auf den Friedhof vorgewagt haben. Mittlerweile gibt es eine neue Theorie, was Rehe in die Siedlungen der Menschen treiben könnte. Der verstärkte Anbau von Mais sei Schuld. Den mögen Rehe nämlich nicht. Außerdem tummeln sich in den Maisfeldern Wildschweine, um die Rehe einen großen Bogen zu machen pflegen.

Wie sieht die Strategie der Gemeinde Neu Wulmstorf gegen die gefräßigen "Grabschänder" aus? Zunächst hofft die Verwaltung, nach einer zweiten Ausschreibung schnell ein Unternehmen mit dem Bau eines zwei Meter hohen Zaunes beauftragen zu können. Bevor die letzte Ecke des rehsicheren Walls geschlossen wird, soll eine Menschenkette die Rehe durch das Schlupfloch scheuchen und der Zaun dann geschlossen werden. Wie viele Menschen für den Scheuchtrupp benötigt werden, weiß offenbar noch niemand genau. Auf jeden Fall mehr als die offenbar wenig Respekt einflößenden 20, die beim letzten Versuch übergaloppiert wurden. "Wie viele Personen genau", heißt es bei der Gemeindeverwaltung, "wird noch mit der Feuerwehr abgestimmt."

Bis dahin stellt die Friedhofsverwaltung den Trauergästen Vergrämungsmittel kostenlos zur Verfügung. Diese Duftstoffe, die den empfindlichen Nasen der Rehe nicht bekommen, haben aber einen großen Nachteil. Sie lassen frische Blumen schnell gelblich verfärbt und damit verfault aussehen, berichten mehrere Friedhofsgäste übereinstimmend. Auch Haarspray und Pfeffer auf den Blumen habe nicht gewirkt. Fischmehl gilt als besseres Abwehrmittel, sei aber in Neu Wulmstorf nicht zu kaufen.

Jeden Tag besucht Agnes Heise die drei Gräber ihrer Lieben. Die 78-Jährige ist schon bei Bürgermeister Wolf Rosenzweig gewesen, hat sich über den Blumenfraß auf dem Friedhof beklagt. Es mache sie traurig und wütend, wenn sie ihren Grabschmuck nach kurzer Zeit zerstört sieht. Sie wisse nicht mehr, was sie zum Geburtstag oder zum Todestag zum Grab bringen solle.

Friedhofsbesucher begrüßen sich schon mit Galgenhumor, wenn sie anderen begegnen, die frische Blumen mit sich tragen: "Na, bringst du Rehfutter?", frotzeln sie. Irmgard Franke gehört zu denen, die weiter "Rehfutter" bringen. "Ich lege meine Blumen auf das Grab in der Hoffnung, dass sie liegen bleiben, sagt sie. Gleichzeitig ermahnt sie die Gemeindeverwaltung, endlich die Rehplage abzustellen: "Sonst brauchen wir keinen Friedhof, dann hätte ich ja auch eine Seebestattung machen können."