Das Poltern eines hartgekochten Eies, das Surren einer elektrischen Zahnbürste: Die Kinderkompositionsklasse hält alle Geräusche fest.

Winsen. Am Anfang ist das Ei. Es kullert hartgekocht über den Fliesenboden, eiert roh auf die Holztischkante zu oder landet knackend in einer Metallschüssel. Jede Bewegung erzeugt einen besonderen Rhythmus, und Rhythmus ist das Thema der diesjährigen Kinderkompositionsklasse in Winsen.

Dass ein Ei einen eigenen musikalischen Charakter hat, ist für Matthias Kaul selbstverständlich. "Für mich ist das Musik." Der 63-Jährige und seine Musikerkollegin Astrid Schmeling, 56, schulen seit 13 Jahren Kinder und Jugendliche darin, genau hinzuhören. Sie sind Mitbegründer des renommierten Ensembles für zeitgenössische Musik L'Art pour l'Art. Ihre Heimat haben sie in einer alten Försterei, einem verschachtelten Haus mit vielen Zimmern, Treppen und Bücherregalen.

"Wir wollen den Kindern nichts beibringen", betont Matthias Kaul, Schlagzeuger des Ensembles. "Wir wollen die Erfahrung vermitteln, dass es möglich ist, per Musik zu kommunizieren." Der Kursus, der über sechs Monate geht, beginnt mit Hörübungen: rollende Eier, tickende Uhren, zwitschernde Vögel, elektrische Zahnbürsten - und alles, was die Schüler im Alltag so wahrnehmen. Gelauscht wird drinnen, draußen, mit dem Ohr an Schüsseln oder auf der Tischplatte. "Die Kinder bringen ihre eigene Fantasie ein", sagt Flötistin Astrid Schmeling. "Es geht darum, dass sie sich musikalisch zum eigenen Erleben äußern." Denn Neue Musik habe viel mit dem Leben zu tun. Aus den ersten Ideen entwickelt jeder Schüler ein Thema, aus dem Thema wird ein Musikstück.

+++Die Schüler-CD+++

Wie klingt eine Apfelsine? Und wie das Wasser, das in einem klaren Strahl auf sie trifft und in vielen kleinen Tropfen wieder abprallt? Agnes stützt die Ellenbogen auf den alten Holztisch, auf dem sich eine verwaschene weiße Tischdecke mit Spitzenborte in viele Falten knittert. Auf der Fensterbank zwischen roten Samtvorhängen stehen zwei Topfpflanzen mit braunen Blättern, neben einer angebrochenen Styroporschale und einem Mörser schaukelt ein Wiegemesser auf einem Papierstapel. Auf einer umgedrehten Holzkiste widersteht eine große Murmel der drohenden Schwerkraft.

Agnes rollt einen Bleistift zwischen den Fingern. Zu ihrem Stück gehören mehrere Wasserfotos, die sie selbst gemacht hat und nun mit Hilfe von Matthias Kaul vertont. Im Kopf der 14-Jährigen ist jetzt das Bild eines Wasserstrahls aus einer Dusche. Vor ihr liegt ein großes Blatt Papier, auf dass sie mit einem Lineal untereinander drei lange Linien gezogen hat. Dazwischen viele kleine Linien und Buchstaben. "Wo hast das C hingesetzt?" Matthias Kaul beugt sich von der anderen Tischseite herüber, die Hand im grauen Bart vergraben. "Hier." Agnes fährt suchend mit dem Bleistift über das Papier. "Nein, da." Die beiden schieben die Töne hin und her, Bleistift, Radiergummi, Bleistift. Am Ende sind zwei Linien gefüllt, die Singstimme entspricht genau der Flötenstimme - nur rückwärts.

Die Schülerin aus Luhdorf hat den Komponistenkursus vor sieben Jahren zum ersten Mal besucht - und war seitdem fast jedes Jahr dabei. "Ich denke jetzt ständig: Das Geräusch könnte ich in mein nächstes Stück einbauen", sagt Agnes, die selbst kein Instrument spielt. Sie habe es mal mit Trompete und Klavier versucht, sagt sie. Beim nächsten Satz muss sie lachen. "Jetzt lasse ich lieber andere arbeiten."

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Für das Apfelsinenbild muss die Besetzung gefunden werden. Fröhlich-chaotisch sei das, meint Agnes. Sie will Tempiwechsel einbauen, das Wasser ändere schließlich seine Richtung. "Schöne Idee, spannend." Matthias Kaul tippt auf den Papierbogen. "Bitte notieren." Aber was ist mit der Atmosphäre? Ordnung, sagt Agnes. Also Dur. Sie notiert. Und die Besetzung? Die Flöte soll die Apfelsine sein, da sind sie sich einig. Und das Klavier der Abprall, die Flöte der Aufprall. Oder umgekehrt?

Elf Kinder zwischen acht und 16 Jahren sind in der aktuellen Klasse, unterrichtet werden sie einzeln. Am Ende des Kurses werden die Kompositionen in einem Konzert präsentiert, die Musiker von L'Art pour l'Art spielen die von den Kindern komponierten Stücke. Finanziert wurde das Projekt bisher mit Geld vom Land, der Stadt und unterschiedlichen Stiftungen. Momentan sei die Klasse allerdings gar nicht finanziert, sagt Matthias Kaul. Die Stadt Winsen, die das Projekt über mehrere Jahre unterstützt hat, hat ihre Förderung angesichts knapper Kassen in diesem Jahr zurückgezogen. Die Entscheidung war im Stadtrat umstritten. Im ausgebauten Dach der alten Scheune sitzt Lea auf einem Hocker am Flügel. Mit ihren Zehenspitzen tippt sie auf den Boden, die Arme hat sie verschränkt. Eigentlich weiß die 12-Jährige schon, wie sich ihr Stück anhören soll. Ein Klavierstück wird es mit einer ungewöhnlichen Regieanweisung, die Lea vorn anstellen will: "Egal, was passiert, spiel weiter." Irritationen sind der Kern ihrer Komposition. "Ich baue Störer im Publikum ein", sagt Lea. "Einer geht jonglierend um den Flügel herum, einer steht neben dem Pianisten und guckt einfach nur, einer legt Dinge auf die Flügelsaiten." Nur wie soll das Ganze genau aussehen? Lea zögert. Astrid Schmeling stellt als Anregung Klangschalen auf die Saiten und schlägt ein paar Tasten an. Ein metallisches Klirren mischt sich in den Ton.

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Hier auf dem Dach lagern zahlreiche Requisiten für die Hörübungen. Eine Badewanne, ein alter Koffer, gefüllt mit Telefonen, einem Föhn, dick gepolsterten Kopfhörern, ein Stapel wuchtiger alter Radiogeräte. An einer Seite unterschiedliche Holzstühle in drei Reihen, dazwischen ein rotes Cordsofa. Mitten im Raum stehen zwei Bodenlautsprecher, von der Decke hängt ein Kronleuchter mit Elektrokerzen. Durch die Sprossenfenster fällt Abendsonne, die oberen Luken sind mit schwarzen Tüchern verhängt. Es ist warm. "Hier soll der Kanon einsetzen." Lea zeigt auf eine Stelle im Notenblatt. "Und hier statt eines langen Tones ganz viele kurze." Astrid Schmeling spielt immer wieder denselben Akkord. "Das nennt man Repetition, Wiederholung. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich das auf Dauer spannend anhört. Vielleicht lieber so?" Lea zögert, den Daumen an der Unterlippe. Na, gut. Sie ist ihrem Werk ein Stück näher gekommen.

In kreativen Prozessen sei die Entscheidung das, was zählt, sagt Matthias Kaul. "Die Kinder lernen beim Komponieren auch, sich zu entscheiden. Und vor allem: Das, wofür du dich entscheidest, ist das Richtige. Sie werden selbstbewusster." Und aufmerksamer. Wer auf Geräusche achte, werde sich auch ihrer Wirkung bewusst, sagt Matthias Kaul. Er erinnert an die Werbung, die sich dies zu eigen macht. "Das Ohr ist sehr leicht verführbar." Die beiden Musiker sind auf diese Weise ihrem Kühlschrank verfallen. Dieses wundervolle Geblubber und Gegurgel - Astrid Schmeling überlegt bereits, ob sie das Gerät zu den alten Instrumenten stellen soll, um es geschützt zu erhalten. Es sei nicht zu ersetzten, meint Matthias Kaul. "Unser Kühlschrank ist eine Stradivari." Dessen einmaliges Quietschen hat es sogar in ein Stück der Musiker geschafft. Auch die Eier, mit denen für die Schüler der Klasse alles begann, könnten in der einen oder anderen Komposition verewigt werden. Die ersten Übungsobjekte sind allerdings längst als Rührei verspeist worden.