Um 1900 nutzten Seefahrer in aller Welt die exakte Zeitmessung der Hansestadt. Uhrmacher will einen historischen Teil der Sternwarte wieder beleben.

Hamburg. Ein bisschen wird Uhrmacher Andreas Hentschel die Zeit neu erfinden: Er will an eine alte Tradition anknüpfen und die „Hamburger Zentralzeit“ wieder einführen. Dazu möchte er einen Teil der Sternwarte – das Gebäude zur Meridiankreisvermessung – wieder in Betrieb nehmen. In Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern des Observatoriums will er forschen und Chronometer prüfen.

In der Universität Hamburg, die die Sternwarte für Lehre und Forschung nutzt, kommt der Plan gut an. „Das Meridiankreisgebäude wurde für viel Geld restauriert, wird momentan aber nicht gebraucht“, sagt Jürgen Schmitt, Professor an der Sternwarte. „Das Vorhaben von Herrn Hentschel wäre eine schöne Weiterentwicklung der einstigen Nutzung und sicher auch interessant für unsere Besucher.“

Wer den Uhrmacher in seiner Eppendorfer Manufaktur besucht, um über das Projekt zu sprechen, sollte viel Zeit mitbringen. Denn um die Hintergründe zu vermitteln, muss Hentschel weit ausholen. „Ich glaube, viele wissen nicht, wie wichtig Hamburg für die Zeitmessung war“, sagt Hentschel und beginnt zu erzählen.

Mit der Gründung Deutschlands 1871 beschloss Kaiser Wilhelm mit einigen Hamburger Reedern, sich vom britischen Empire unabhängig zu machen. Die Engländer besaßen damals das Monopol auf die Zeitbestimmung: Sie hatten in Greenwich den Nullmeridian festgelegt und bestimmten in ihren Sternwarten die Zeit. Diese exportierten sie mit von ihnen entwickelten Seechronometern. Sie gingen über Monate genau, was wichtig für die Navigation und damit den Überseehandel war.

„Man kaufte Schiffe und Uhren damals vorwiegend in England“, weiß Hentschel. Wirtschaftlich erfolgreich konnten die Deutschen so nicht werden. Also nahmen Kaiser und Reeder viel Geld in die Hand und errichteten die Sternwarte (zur Bestimmung der Zeit), eine Uhrmacherschule, in der die besten Chronometermacher lehrten (zur Bewahrung der Zeit) und einen Zeitball (zur Verbreitung der Zeit). Installiert war er dort, wo heute die Elbphilharmonie entsteht. Jeden Mittag um 12 Uhr fiel er herab, die Kapitäne kontrollierten vor dem Auslaufen ihre Uhren und nahmen die Hamburger Zentralzeit mit auf See. Oberhalb des Hafens wurde (zur Pflege der Zeit) die Seewarte gebaut: ein neu geschaffenes Amt, das die hohe Qualität der Hamburger Chronometer sicherstellte.

„Der Plan ging auf“, sagt Hentschel. Innerhalb weniger Jahre befreite sich Deutschland von England. Jetzt orientierten sich deutsche Händler und Seefahrer auf der ganzen Welt an der Hamburger Zentralzeit, die durch Zeitball und Telegrafen verbreitet wurde. Es war den Hamburgern gelungen, besonders hochwertige Chronometer herzustellen. Viele funktionieren noch heute, nach mehr als 100 Jahren, tadellos.

„Wollen Sie einen sehen?“ Andreas Hentschel springt von seinem Stuhl auf und holt einen kardanisch aufgehängten Seechronometer mit Holzgehäuse und offen liegendem Uhrwerk. Mit einem goldenen Schlüssel zieht er ihn auf. Mehr als 90 alte Hamburger Chronometer hat Hentschel ausfindig gemacht. Sie haben namhafte Forscher auf ihren Reisen begleitet und sind jetzt weltweit in Museen untergebracht. Hentschel hat sie fotografiert und ihre Geräusche aufgenommen. In einem „Digitalen Museum“ kann man sie künftig bewundern, ebenso wie das alte Chronometer, zu dessen Ticken er weiter erzählt.

Von der in Hamburg bestimmten Zentralzeit profitierten Werften und Uhrmacherwerkstätten, Forscher, Verkehrsunternehmen und Kirchen. Angezeigt wurde sie von einer stattlichen Uhr an der Hamburger Börse. Auch diese „Ur-Uhr“ konnte Hentschel auftreiben: auf dem Dachboden eines Sammlers, der früher für ihre Wartung zuständig war. Sie wird künftig in seiner 2012 eröffneten „Uhrenwerft“ am Kaiserkai hängen und von dort erneut die „Hamburger Zentralzeit“ aussenden.

Synchronisierung mit Atom-Uhr

Weil sie wegen ihres Alters aufs Jahr gesehen ein paar Sekunden nachgehen könnte, synchronisiert Hentschel sie mit einer Atom-Uhr, genannt Zeitsurfer, die er eigens entwickeln ließ. „So etwas braucht die Welt eigentlich nicht mehr“, gesteht er. „Aber bei einem totalen Fallout wüsste Hamburg weiterhin die genaue Uhrzeit.“ Bereits jetzt können Interessierte Hentschel und seinen Mitarbeitern in der gläsernen Eppendorfer Manufaktur über die Schulter schauen. Auch an den Chronometerprüfungen und den Forschungen in der Sternwarte möchte er sie teilhaben lassen. „Besucher sollen zuschauen können, wie die Zeit aus den Sternen bestimmt wird“, wünscht er sich. Im Bergedorfer Meridiankreisgebäude wurde das früher mit einem hochpräzisen Teleskop durchgeführt, mit dem die Position der Himmelskörper beobachtet und so die Zeit bestimmt wurde. Es wurde in den 80er-Jahren dem Deutschen Museum in München überlassen, wird dort aber nicht gebraucht. Hentschel möchte es gemeinsam mit der Sternwarte zurückholen.

Im Prüfzentrum des Observatoriums könnte Hentschel künftig auch die neuen Standards, die er für die Qualität von Uhren festgelegt hat, erforschen und weiterentwickeln. Dazu erhält er mittlerweile eine finanzielle Unterstützung vom Bundeswirtschaftsministerium. Nach diesen Standards lässt er sich nicht zweimal fragen.

„Ich habe auf der Basis alter Zeichnungen ein Uhrwerk entwickelt, in das alles hineingeflossen ist, was ich in 20Jahren Forschung gelernt habe“, sagt er. Herausgekommen ist das „Hamburger Manufakturkaliber Werk 1“ – ein Armbanduhrwerk, das herzustellen nur wenige Uhrmacher weltweit in der Lage sind. Hentschel hat es geschaffen. Es lässt sich weder von starken Erschütterungen noch von extremer Hitze oder Eiseskälte aus dem Takt bringen. Der Forschungsauftrag der Bundesbehörde lautet, auch das Innenleben der Uhr wasserresistent zu machen. Stolz zeigt Hentschel ein dickes Magazin, das als Almanach der deutschen Uhrenmacher gilt. 16 Seiten wurden ihm dort gewidmet, nachdem man ihn bislang geschnitten hatte. Diese Anerkennung, die Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums, sein einzigartiges Uhrwerk, die Schaffung einer Uhrenprüfstelle und das Aussenden der Hamburger Zentralzeit – mehr kann ein Uhrmacher kaum erreichen. Doch er denkt schon weiter, will Qualitätsnormen für alltagstaugliche Uhren schaffen, die über das Prädikat „wasserfest“ hinausgehen. „Irgendwann“, sagt Hentschel zum Abschied, „müssen die Schweizer uns fragen, ob wir ihre Uhren prüfen.“ Auch das wäre dann einer seiner Erfolge.