Neue Vorwürfe vor dem Amtsgericht Barmbek. Eine Zeugin deutet es an, die andere spricht ganz konkret darüber: Da sei mehr gewesen, viel mehr.

Hamburg. Es war nicht damit zu rechnen, dass die Zeuginnen derart brisante Details preisgeben würden - Details, die den wegen Kindesmissbrauchs angeklagten Lehrer Kai J. schwer belasten. Und die zum Teil weit über den Vorwurf der Staatsanwaltschaft hinausgehen, der heute 63-Jährige habe 1990 und 1991 an der Volksdorfer Grundschule An den Teichwiesen zwei damals sechs und sieben Jahre alte Mädchen zum Zungenkuss gezwungen.

Eine Zeugin deutet es nun vor dem Amtsgericht Barmbek an, die andere spricht ganz konkret darüber: Da sei mehr gewesen, viel mehr.

Ob ihre Aussagen etwas damit zu tun haben, dass plötzlich auch der Hamburger Anwalt Johann Schwenn in die Verteidigung eingeschert ist? Das Auftauchen des streitbaren Anwalts ist gewiss mehr als eine Randnotiz: Schwenn - zuletzt erwirkte er einen Freispruch im Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann - gilt als Spezialist für knifflige Sexualstrafverfahren.

Von einem Zeugenbeistand begleitet, tritt am Morgen Sonja T., 38, mit sehr ernster Miene in den voll besetzten Gerichtssaal. Aus dem Abendblatt hatte Sonja T. - wie auch die geladene Nicole G. - von dem Prozess gegen ihren einstigen Lehrer erfahren und sich bei der Staatsanwaltschaft gemeldet. Heute will Sonja T. über alles sprechen - aber nur hinter verschlossenen Türen. "Das, was er gemacht hat, war viel mehr als ein Zungenkuss", sagt sie. Dann schließt das Gericht die Öffentlichkeit aus.

Den Stein ins Rollen hatte Heike E. (Name geändert) gebracht, heute 27 Jahre alt. Im Mai 2010 hatte sie den Pädagogen angezeigt - kurz bevor der Fall verjährt gewesen wäre. Sie war 1990 sechs Jahre alt und besuchte die Klasse 1b der Grundschule. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll Kai J. sie und die ein Jahr ältere Claudia K. vor der Klasse dreimal zum Zungenkuss gezwungen haben. Kai J., der seit Anklageerhebung im Januar 2011 von seiner Lehrtätigkeit an der Albert-Schweitzer-Gesamtschule entbunden ist, schweigt.

Zugleich setzen sich andere für ihn ein: Zwei schriftliche Ehrenerklärungen für Kai J. sind bereits bei Gericht eingegangen, außerdem ein anonymer Brief, der Hinweise enthalten soll, dass auch eine "persische Schülerin" Opfer von Kai J. geworden sei. Die Polizei sei beauftragt worden, das Mädchen ausfindig zu machen, sagt die Richterin.

Doch fehlt es nicht an entlastenden Aussagen: Birte H., 29, Mitschülerin des mutmaßlichen Opfers, berichtet gestern, sie habe nie einen Zungenkuss beobachtet. "Herr J. war sehr nett, freundlich und geduldig." Ob es körperliche Berührungen gab, will die Richterin wissen. "Es gab Umarmungen, wenn man sich mal verletzt hat", sagt Birte H.

Ganz anders Nicole G. Der 45-Jährigen fällt es schwer, über das Vergangene zu sprechen, darüber, was sich 1983 ereignet habe, als sie 16 und Herr J. ihr Klassenlehrer war. "Herr J. hat mich zweimal missbraucht", sagt Nicole G. mit brüchiger Stimme. Als "es" das erste Mal passierte, habe er sie zum Plätzchenbacken in seine Wohnung eingeladen. "Danach hatte ich solche Schmerzen, dass ich im Stehen Fahrrad fahren musste." Beim zweiten Mal sei er mit ihr in ein Waldstück gefahren und habe sich in seinem blauen VW-Bus an ihr vergangen. Ihre Pein habe sie ihrem Tagebuch anvertraut, geschwiegen habe sie aus Angst und Scham. Nachdem ihre Mutter die Aufzeichnungen gelesen habe, hätten ihre Eltern den Elternrat eingeschaltet, der den Schulleiter informierte. "Wir konnten uns nicht vorstellen, dass an den Vorwürfen was dran war", sagt Jörg B., 71, der damals Elternratsvorsitzender war und mit Kai J. befreundet ist. "Wir haben das auf die Fantasien eines pubertierenden Mädchens zurückgeführt." Die Psychologin, die Nicole G. damals untersuchte, habe ihr von einer Anzeige abgeraten. "Sie sagte, einen Prozess hätte ich psychisch nicht durchgestanden." Stattdessen habe sie die Schule gewechselt und lange unter Selbsthass gelitten, "weil ich mich nicht gewehrt, nicht geschrien, nicht gekratzt habe", sagt sie. "Mein Lebenstraum war, dass er sich entschuldigt."

Strafrechtliche Folgen drohen Kai J. wegen der von den Zeuginnen geschilderten Fälle nicht - sie sind verjährt. Die Verteidiger Johann Schwenn und Mathias Frommann gehen von einer Falschbeschuldigung durch Heike E. aus: Die junge Frau leide womöglich unter einer Borderline-Symptomatik, die sie dazu getrieben habe. Der renommierte Forensiker der Berliner Charité, Hans-Ludwig Kröber, solle sie deshalb begutachten. Über den Antrag will das Gericht bis zum nächsten Prozesstag am 20. März entscheiden.