Das vermeidbare Schicksal der kleinen Yaya erschüttert Hamburg. Zwei Jugendämter, die Staatsanwaltschaft, ein Familiengericht waren mit dem Fall der Dreijährigen betraut – und sind mitverantwortlich für die Tragödie.

Die Meinung des Jugendamts Eimsbüttel war eindeutig. Bei einem Termin vor dem Familiengericht am 2.Mai vergangenen Jahres lehnt die Jugendamtsmitarbeiterin es strikt ab, dass Yagmur Y. wieder ihren Eltern anvertraut wird. Die Richterin ist drauf und dran, dem Antrag des Jugendamts zu folgen und den Eltern das Sorgerecht zu entziehen. Nur sechs Wochen später gibt es beim Jugendamt Eimsbüttel einen plötzlichen Sinneswandel: Die Rückführung des Mädchens wird geplant, vom 2.August 2013 an lebt Yagmur wieder bei ihren Eltern. Viereinhalb Monate später ist das Kind tot.

Die dreijährige Yagmur („Yaya“) ist am 18.Dezember in der Wohnung ihrer Eltern in Mümmelmannsberg an einem Leberriss innerlich verblutet. Der Vater Hüseyin Y. steht unter dringendem Tatverdacht, seine Tochter misshandelt zu haben – ihm wird Totschlag vorgeworfen. Der Mutter Melek Y. wird Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen vorgeworfen. Das Ehepaar sitzt in Untersuchungshaft.

Wie konnte es sein, dass den Eltern Melek und Hüseyin Y. ihre Tochter zurückgegeben wird? Warum hat sich die Haltung des Jugendamts Eimsbüttel um 180 Grad gedreht? Das hängt nach Informationen des Abendblatts zum einen mit einem Brief zusammen, den die Pflegemutter von Yagmur an die Polizei und das Jugendamt geschrieben hat, und zum anderen mit schweren Versäumnissen der Hamburger Staatsanwaltschaft, des Familiengerichts und der Jugendämter.

Im Januar 2013 soll eigentlich Ruhe in Yayas Leben einkehren. Da das Kind unter dem Hin und Her zwischen seiner Pflegemutter Inés M. und seinen Eltern leidet, beschließt das Jugendamt Eimsbüttel, dass Yaya wieder bei ihren Eltern leben soll. Die Pflegschaft wird nach mehr als zwei Jahren beendet. Am 28.Januar bringen die Eltern Yaya ins Krankenhaus, weil sie schielt. Erst nach mehreren Untersuchungen stellen die Ärzte außer einem Riss in der Bauchspeicheldrüse auch fest, dass die Kleine schwerste Schädelverletzungen hat. Yaya muss notoperiert werden. Klaus Püschel, Leiter der Rechtsmedizin am UKE, stellt „Strafanzeige gegen unbekannt“, da er das Mädchen als hochgradig gefährdet ansieht. Später wird er sagen, dass dies ein „ungewöhnlicher Vorgang“ gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. In der polizeilichen Vernehmungsakte wird später der Vermerk eines Polizeibeamten aufgenommen, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abzuwarten seien, bevor Yagmur wieder zu ihren Eltern kommt.

Das Jugendamt in Eimsbüttel nimmt Yaya in staatliche Obhut, da sowohl die Pflegemutter als auch die Eltern das Kind verletzt haben könnten. Die Mutter von Yaya wird von der Staatsanwaltschaft jedoch nie befragt. Das bestätigt die Hamburger Ermittlungsbehörde dem Abendblatt. „Sie wurde zu einer polizeilichen Vernehmung geladen“, sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Dort sei Melek Y. jedoch nicht erschienen. Das scheint in der Staatsanwaltschaft jedoch niemanden gestört zu haben. Fakt ist: Ein Verhör der Mutter hat es nie gegeben. Im November 2013 wird das Verfahren eingestellt, ohne dass je mit Melek Y. gesprochen worden ist.

Am 6.Februar kommt Yaya ins Kinderschutzhaus Altona. Da unklar ist, wer das Kind misshandelt hat, und die Eltern darauf pochen, ihre Tochter wiederzubekommen, schaltet das Jugendamt das Familiengericht ein. Zuständig ist das Amtsgericht in St.Georg. Das Jugendamt beantragt, dass Melek und Hüseyin Y. Teile des Sorgerechts entzogen und einem Pfleger übertragen werden, da es eine Gefährdung des Kindeswohls gebe. Nach Informationen des Abendblatts geht es um das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Erziehungsrecht, also die drei wichtigsten Bereiche.

Yayas Eltern nehmen sich daraufhin einen Anwalt, den Familienrechtler Rudolf von Bracken. Die Pflegemutter unterstützt das Vorgehen, empfiehlt den Eltern den Rechtsanwalt. Neben dem Antrag des Jugendamts auf Entziehung des Sorgerechts werden im Februar offenbar noch drei weitere Verfahren eingeleitet. Die Eltern stellen sowohl einen Antrag auf Herausgabe des Kindes als auch auf Umgang mit ihrer Tochter. Zudem will die Pflegemutter kurzzeitig den Umgang mit Yaya erstreiten.

Ein Verfahrensbeistand, der die Interessen des Kindes vertritt, wird bestellt. Dabei handelt es sich um Rechtsanwalt Peter Rohrmoser, der Yaya im Kinderschutzhaus besucht. Wie das Abendblatt erfuhr, kommt er zu dem Schluss, dass das Mädchen in dem Kinderschutzhaus gut aufgehoben ist.

Der Verfahrensbeistand ist auch bei dem ersten Termin vorm Familiengericht am 13.Februar dabei. Zudem nehmen die Jugendamtsmitarbeiterin aus Eimsbüttel und Yayas Eltern mit einer Kollegin des Anwalts von Rudolf von Bracken an dem Treffen teil. Da das endgültige Gutachten der Rechtsmedizin noch nicht vorliegt, einigt man sich darauf, dass die Herausgabe des Kindes zunächst nicht weiter verfolgt wird und die Eltern vorerst keinen Umgang mit ihrem Kind haben.

Gut zwei Monate später, Mitte April, liegt das ergänzende Gutachten der Rechtsmedizin schließlich vor. Kurz darauf teilt das Jugendamt Eimsbüttel dem Familiengericht mit, dass der Verdacht gegen die Eltern, ihre Tochter misshandelt zu haben, bisher nicht ausgeräumt werden konnte und die Eltern deshalb nicht in der Lage seien, sich um ihre Tochter zu kümmern.

Diese Meinung vertritt die Jugendamtsmitarbeiterin auch beim zweiten Termin vor dem Familiengericht am 2.Mai. Sie fordert weiterhin, dass Melek und Hüseyin Y. das Sorgerecht entzogen wird. Der Verfahrensbeistand gibt zu bedenken, dass Yagmur ihren Eltern nur wieder anvertraut werden könne, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Die Familienrichterin droht den Eltern daraufhin an, ihnen das Sorgerecht zu entziehen, falls sie nicht einer Vollmacht zustimmen. Darin sollen sie erklären, dass Yaya weiterhin im Kinderschutzhaus bleibt und somit das Jugendamt die „Vollmacht über Teile des Sorgerechts“ hat. Melek und Hüseyin Y. wollen Bedenkzeit und zeigen sich zudem nicht besonders kooperativ – nach Informationen des Abendblatts lehnen sie etwa eine Familienhilfe ab. Sechs Tage später erklärt sich das Paar mit der Vollmacht einverstanden.

Das Familiengericht fordert das Jugendamt Eimsbüttel einen Monat später auf, schriftlich über die aktuelle Situation zu informieren. In dem Bericht vom 12.Juni – nur sechs Wochen nach dem Gerichtstermin – ist jedoch nicht mehr die Rede davon, dass den Eltern das Sorgerecht entzogen werden sollte. Vielmehr stellt das Schreiben eine 180-Grad-Wende des Jugendamts dar: Die Mitarbeiterin teilt darin mit, dass Hüseyin Y. bereits seit der 20. Kalenderwoche, also zwei Wochen nach dem Gerichtstermin, wieder Umgang mit seiner Tochter habe. Die Mutter Melek Y. sei noch in einer Kur, werde danach aber auch wieder Kontakt mit Yaya haben. Zudem sei eine mittelfristige Rückführung des Kindes geplant, jedoch unter bestimmten Bedingungen: Die Jugendamtsmitarbeiterin will, dass das Familiengericht die Erziehungsfähigkeit der Eltern überprüft – dazu kommt es jedoch nie. Und sie plädiert dafür, dass ein bestimmter Träger für die Rückführung gewonnen werde – AMA e.V., Ambulante Maßnahmen Altona. Darüber hinaus weist das Jugendamt in dem Bericht darauf hin, dass vom 1.Juli an die Kollegen im Bezirksamt Mitte für den Fall zuständig sind – weil Melek Y. bereits zuvor von Eimsbüttel in den Bezirk Mitte gezogen war.

Zu dem plötzlichen Sinneswandel beim Jugendamt Eimsbüttel führte offenbar ein Brief, den die Pflegemutter Inés M. Anfang Mai an die Behörde und die Polizei geschrieben hatte – also zu einem Zeitpunkt, zu dem das Jugendamt noch einen harten Kurs fuhr und es für unvorstellbar hielt, dass Yaya wieder bei ihren Eltern lebt. In dem Brief schildert Inés M., dass sie die Schuld an Yayas schweren Kopfverletzung tragen könnte, und nimmt die Eltern des Mädchens in Schutz. Sie setzt sich sogar dafür ein, dass Yaya wieder bei Melek und Hüseyin Y. wohnen darf. Inés M. beschreibt in dem Brief, wie sie einige Monate zuvor den Maxi-Cosi-Kindersitz, in dem Yaya saß, geschüttelt habe. Zudem sei das Mädchen einmal aus dem Bett gefallen, und sie sei einmal mit Yaya auf dem Arm hüpfend durch die Wohnung gesprungen. Der Brief ist letztlich ein Plädoyer für die Eltern des Mädchens.

Am 31. Juli fragt das Familiengericht beim Jugendamt Eimsbüttel erneut schriftlich nach dem Sachstand im Fall Yagmur Y. Dass bereits seit einem Monat das Jugendamt Mitte für die Angelegenheit zuständig ist, scheint beim Gericht untergegangen zu sein.

Im August setzt sich die Kette der Versäumnisse fort. Yaya kommt am 2.August aus dem Kinderschutzhaus wieder zurück zu ihren Eltern nach Mümmelmannsberg. Obwohl die staatsanwaltlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind und obwohl nach wie vor der Verdacht besteht, dass Melek und Hüseyin Y. ihre Tochter schwer verletzt haben. Beim Familiengericht wird das Verfahren wegen Herausgabe des Kindes kurz zuvor eingestellt, ebenso wie das Verfahren, in dem die Eltern einen Umgang mit Yaya fordern. Doch das Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls ist nach wie vor offen.

Nach Abendblatt-Informationen beenden Yagmurs Eltern im August alle freiwilligen sozialpädagogischen Familienhilfen. Das Jugendamt Mitte nimmt daraufhin Kontakt zu der Familie auf. Völlig unklar ist jedoch noch immer, in welchen Abständen das Jugendamt Melek und Hüseyin Y. besucht hat und wie die Betreuung genau ausgesehen hat. Fest steht dagegen, dass die Eltern ihre Tochter bereits wenige Wochen nach ihrer Rückkehr von der Kita abmelden. Auf Nachfrage des Jugendamts Mitte heißt es seitens der Eltern, dass man die Bindung zum Kind zu Hause intensivieren wolle.

Am 16.September schickt das Familiengericht dem Jugendamt Eimsbüttel erneut eine Sachstandsanfrage. Den Zuständigkeitswechsel in dem Fall scheint immer noch niemand beim Familiengericht registriert zu haben. Vier Tage später ruft eine Jugendamtsmitarbeiterin aus dem Bezirk Mitte beim Gericht an, weist auf die neue Zuständigkeit hin und gibt an, dass der Bericht in Kürze käme. Diese Angaben bestätigt das Jugendamt Mitte auch noch mal schriftlich. Doch ein Bericht zu Yayas aktueller Lebenssituation kommt beim Familiengericht nie an.

Einen Monat später liegt der Staatsanwaltschaft die Stellungnahme der Rechtsmedizin zur Aussage der Pflegemutter vor. Die Rechtsmediziner kommen zu dem Schluss, dass die Schilderungen von Inés M. nicht zu den schweren Verletzungen des Kindes passen. Wer diese dem Kind angetan hat, bleibt weiterhin unklar. Am 7.November werden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt – ohne Ergebnis. Dagegen ist das Verfahren beim Familiengericht wegen Gefährdung des Kindeswohls nach wie vor offen.

Das Familiengericht unternimmt Ende November einen weiteren Versuch, vom Jugendamt Mitte einen Bericht über Yagmur und ihre Familienverhältnisse zu bekommen. Doch beim Gericht kommt kein Schreiben an, Yaya gerät offenbar zwischen die Mühlen der Behörden. Dabei wäre es wohl eine der letzten Möglichkeiten gewesen, um auf das Martyrium des Mädchens aufmerksam zu werden. Drei Wochen später ist Yaya tot. Sie ist drei Jahre alt geworden.