Vier Wochen vor Kindesentführung entschied Gericht, dass 16-Jähriger untergebracht werden sollte. Aber es gab keinen freien Platz.

Hamburg. Mehr als drei Stunden war ein Kleinkind im Juni vergangenen Jahres in der Gewalt eines psychisch gestörten Jugendlichen, der es erst entführte und dann möglicherweise missbrauchte. Wenige Tage nach Bekanntwerden des Entführungsfalls nährt sich anhand neuer Informationen zum Hintergrund des Täters ein weitreichender Verdacht: Hätte die Tat verhindert werden können? Haben die beteiligten Jugendämter alles getan, um die Öffentlichkeit vor dem von Gutachtern als "tickende Zeitbombe" beschriebenen Jugendlichen zu schützen?

Wie das Abendblatt erfuhr, plante das Jugendamt Mönchengladbach (Nordrhein-Westfalen), das die Vormundschaft für den heute 17-Jährigen hat, den seit seiner Kindheit psychisch auffälligen Intensivtäter kurz vor der Tat in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe unterzubringen. Nur vier Wochen vor der Entführungstat gab es dazu auf Antrag des Jugendamtes eine einstweilige Anordnung durch das zuständige Familiengericht Stadtroda in Thüringen, wo der Jugendliche damals lebte. Dass die Anordnung letztlich nicht umgesetzt wurde und der als überaus aggressiv bekannte Jugendliche doch nicht weggeschlossen wurde, begründete das Jugendamt Mönchengladbach in einer Stellungnahme damit, dass "trotz intensiver Bemühungen kein freier Platz in einer geschlossenen Einrichtung" gefunden werden konnte, es in ganz Deutschland keine freien Plätze für eine solche Unterbringung gegeben habe. Die Folgen sind bekannt: Der 16-Jährige blieb auf freiem Fuß, flüchtete aus seinem betreuten Heim in Thüringen nach Hamburg, wo er das Kind von einem Marktplatz nach St. Pauli verschleppte.

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Nach Angaben von Dirk Rütten, Sprecher der Stadt Mönchengladbach, hatte der Vormund mit der einstweiligen Anordnung die Genehmigung erhalten, den Jugendlichen für längstens sechs Wochen unterzubringen. In Deutschland würden aber "nur wenige Plätze hierfür zur Verfügung" stehen. Zudem hätten "Jugendhilfemaßnahmen, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden sind, nur einen fakultativ geschlossenen Charakter". Informationen, wonach mit der Anordnung auch eine Unterbringung in der Psychiatrie der Asklepios-Klinik Stadtroda vorgesehen war, bestätigte er nicht.

In Hamburg lebte der Jugendliche nach seiner Flucht aus Thüringen und nachdem er am Hauptbahnhof aufgegriffen worden war, fast vier Wochen im Heim der Kinder- und Jugendnothilfe an der Feuerbergstraße. Zum Fall und auf die Frage, warum er dort trotz Unterbringungsanordnung freien Ausgang hatte, äußerte sich die Sozialbehörde mit Verweis auf den Sozialdatenschutz nicht. Allerdings: "Für einen solchen Jugendlichen bleibt grundsätzlich das Jugendamt zuständig, aus dessen Gemeinde er kommt. Lediglich für die vorübergehende Inobhutnahme ist das Jugendamt an dem Ort zuständig, an dem er aufgegriffen wird", sagte Sprecherin Nicole Serocka. Das Heimat-Jugendamt müsse sich umgehend wieder um ihn kümmern. "Hamburg darf außer der Inobhutnahme gar nichts entscheiden."

Wie das Abendblatt erfuhr, nahm das Hamburger Jugendamt noch am Tag der Aufnahme des 16-Jährigen Kontakt zu den Kollegen in Mönchengladbach auf, mit mäßigem Erfolg. Die Abstimmungen zum Verbleib des Jugendlichen seien äußerst schleppend abgelaufen, sagte ein Mitarbeiter. Die Unterbringungsanordnung sei sogar erst nach Tagen kommuniziert worden.

Mönchengladbach dementiert: "Die Kooperation zwischen den örtlichen Behörden in Hamburg und dem Jugendamt Mönchengladbach war sehr gut", betonte Sprecher Rütten. Auf die Frage, warum der Jugendliche nicht zurückgeholt wurde, antwortete er: Weder in Hamburg noch in Mönchengladbach habe es Möglichkeiten gegeben, ihn geschlossen unterzubringen. Entsprechend sei es egal gewesen, an welchem Ort er zunächst verblieb.