16-Jähriger verschleppte kleinen Jungen nach St. Pauli. Gutachter sprach bereits früher von “tickender Zeitbombe“. Täter jetzt in Ochsenzoll

Hamburg. Es waren befremdliche Bilder, die die Überwachungskameras der Hochbahn auf dem U-Bahnsteig an der Kellinghusenstraße aufzeichneten: Ein schlaksiger Jugendlicher balanciert leichtsinnig und barfüßig an der Bahnsteigkante. Ein Kleinkind folgt ihm apathisch in mehreren Metern Abstand - der kleine Körper angespannt, das Gesicht schockstarr.

Mehrere Stunden waren der damals 16-jährige Marcel* und sein Entführungsopfer Julian* an diesem Abend bereits unterwegs, fuhren kreuz und quer durch die Stadt. Anhand der Videoaufzeichnungen konnten die Ermittler des Landeskriminalamts den Weg des Jugendlichen und seines Entführungsopfers später auf die Minute genau nachvollziehen. Doch auch die Polizei weiß bis heute nicht, was auf einer öffentlichen Toilette passierte, deren stählerne Tür jeden Blick verwehrt.

Auf St. Pauli endete der Weg des damals 16-Jährigen an diesem Sommertag Ende Juni 2011, nachdem er einen kleinen Jungen auf einem Marktplatz gekidnappt hatte. Auf dem Kiez kannte sich der Täter bereits aus: Mehrere Tage hatte Marcel als Ausreißer nur einen Monat vor der Entführung im Punkermilieu rund um das Bismarckdenkmal verbracht, bevor er am Hauptbahnhof von Bundespolizisten aufgegriffen und dem Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst übergeben wurde.

Drei Stunden Angst und Verzweiflung durchlitten Julians Eltern an diesem Abend, dann erst konnten sie ihren Sohn wieder in ihre Arme schließen. In den frühen Abendstunden hatten sich die Eltern beim Einkaufen getrennt und Julian aus den Augen verloren. Warum der Täter sein Opfer wieder an den Ort zurückbrachte, an dem er es Stunden zuvor in einem unbeobachteten Moment einfach hochgehoben und weggetragen hatte, ist nicht bekannt. Mit Hochdruck suchten zu diesem Zeitpunkt neben den verzweifelten Eltern bereits mehrere Dutzend Peterwagen und Anwohner nach dem Jungen.

Seine Eltern vermuten, dass ihr kleiner Sohn diese Tat nur deshalb überlebte, weil er sich dem Täter fügte und ihm folgte, ohne sich zu wehren. Ein Gutachter, der Marcel bereits aus der Zeit in Thüringen kannte, beschrieb den Täter vor Gericht später als äußerst aggressiv, als einen Jugendlichen ohne Emotionen und Empathie, also als jemanden, der sich nicht in andere Menschen hineinversetzen könne. Marcel sei eine "tickende Zeitbombe", hieß es.

In Hamburg musste er sich vor sechs Wochen nicht nur für die "Entziehung eines Minderjährigen" verantworten. Zur Anklage standen auch Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Diebstahl, Fahren unter Alkohol und ohne Führerschein, Unfallflucht. Bereits als 15-Jähriger hatte sich Marcel wegen räuberischer Erpressung, Körperverletzung sowie Nötigung verantworten müssen. Seine Akte füllt zwei Ordner. Bei seiner Vernehmung sollen ihn drei Beamte nur mit vollem Körpereinsatz und Pfefferspray zur Räson gebracht haben.

Marcel wurde 1995 in Gießen geboren. Der Vater starb früh, die drogenabhängige Mutter war mit der Erziehung ihrer Söhne völlig überfordert. Die vier Halbbrüder verwahrlosten, kamen ins Heim. Wie es um Marcel stand und dass er psychologische Hilfe benötigte, erkannten erst Pflegeeltern in Mönchengladbach, bei denen er als Neunjähriger einquartiert werden sollte.

Die Vormundschaft des Jungen hatte damals bereits das Jugendamt übernommen. Doch die erfahrene Pflegefamilie war schlichtweg überfordert: Marcel schmierte seinen Stuhlgang an die Wände der Wohnung, biss Bezugspersonen und Lehrer, nässte bei Erregung und Angst ein. Ausgeprägt war seine Angst, nichts zu essen zu bekommen.

Nach einem Jahr wurde er aus der Pflegefamilie genommen. Der spätere Entführer kam erst in eine Psychiatrie nahe Mönchengladbach, dann in ein heilpädagogisches Heim. Zuletzt lebte er in einer "individualpädagogischen Einrichtung" in Thüringen. Auf einen Jugendlichen kommt dort ein Betreuer.

Marcel blieb ein Problemfall: Mehrfach riss er aus, beging Straftaten. Ende Mai 2011 flüchtete er nach Kiel, wurde aufgegriffen, dem Kinder- und Jugendnotdienst übergeben. Doch er riss erneut aus, fuhr mit der Bahn nach Hamburg, lebte mehrere Tage auf dem Kiez, bis er auch dort aufgegriffen und zum Kinder- und Jugendnotdienst an der Feuerbergstraße gebracht wurde.

Zum Schutz der betroffenen Eltern und ihres kleinen Sohnes verzichtet das Hamburger Abendblatt darauf, den Wohnort der Familie und den genauen Tatort der Entführung zu benennen. Auch die Namen aller Beteiligten wurden geändert. Die Familie steht ein Jahr nach der Entführung noch unter dem Eindruck des Geschehens: Für sie ist der Lebenslauf des Täters keine Entschuldigung. Dass sie in dem vor sechs Wochen beendeten Verfahren gegen Marcel aus Jugendschutzgründen nicht als Nebenkläger auftreten durften, hat sie hart getroffen. Das Geschehene versuchen sie nun zusammen mit Therapeuten aufzuarbeiten. Der Vater des Jungen war für mehrere Monate arbeitsunfähig. Marcel müsse jetzt "so lange wie notwendig" in der geschlossenen Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses Ochsenzoll bleiben, heißt es in Gerichtskreisen. Vom Abendblatt befragte Experten bezweifeln, ob eine Therapie des heute 17-Jährigen angesichts seiner Vorgeschichte möglich ist. Die Tat kam erst jetzt ans Licht, weil der Täter noch minderjährig ist und Polizei und Justiz den Fall deshalb nicht öffentlich machten.

* Namen geändert