Hamburg. Im August 1949 meldet Werner Otto sein Unternehmen für eine D-Mark in Hamburg an. Der Start des großen Weltunternehmens.

Im Jahr 1945 geht es dem damals 36-jährigen Werner Otto wie Millionen anderen auch. Mit Frau und zwei Kindern ist er als Heimatvertriebener in einer völlig fremden Umgebung gestrandet. Hinter ihm liegen Verfolgung, Kriegsdienst und Flucht, vor ihm eine völlig ungewisse Zukunft.

Seine Frau Eva hat etwas Geld in den Westen gerettet, aber Ottos wichtigstes Kapital ist etwas anderes: seine beispiellose Energie – verbunden mit dem unbedingten Willen, Unternehmer zu sein. Dem 36-Jährigen wird schnell deutlich, dass sein Aufenthaltsort Bad Segeberg nur eine Zwischenstation sein kann.

Otto Versand: Helmut Schmidt schätzte Unternehmer Werner Otto

Um Kontakte zu knüpfen, Ideen zu entwickeln und möglicherweise auch Kapital zu mobilisieren, zieht es ihn in das großflächig zerstörte Hamburg, wo die Familie in der Innenstadt in einem kleinen Zimmer unterkommt.

Ottos ungewöhnliche Willensstärke ist mit normalen Maßstäben kaum zu erklären, und in Interviews sagt er später dazu meist nur einen Satz: „Ich war schon immer so.“

Bescheidene Anfänge des Otto Versands: Unternehmer Werner Otto Anfang der 1950er Jahre in seinem Büro in Hamburg-Schnelsen.
Bescheidene Anfänge des Otto Versands: Unternehmer Werner Otto Anfang der 1950er Jahre in seinem Büro in Hamburg-Schnelsen. © OTTO Group Hamburg | OTTO Group Hamburg

Helmut Schmidt, mit dem sich Otto später anfreunden wird, schreibt in seinem Buch „Weggefährten“ über diesen: (…) wenn ihm (…) seine Vorfahren oder wenn ihm Gott einigermaßen normale Gene mitgegeben hat und wenn ihm erspart worden ist, zivilisationsängstlichen Lehrern oder Weltuntergangspropheten in die Hände (…) zu fallen, dann hält ihn die Undurchsichtigkeit der Zukunft nicht davon ab, sich selbst zuzutrauen, er werde seinen Weg machen und er werde mit der Zukunft zurechtkommen.“

Gründung des Otto Versands: Das Vorläufer-Projekt in Hamburg wird zu einem Flop

Statt sich unterkriegen zu lassen, begreift Otto die Stunde null sofort als Chance für einen Neustart. Der Sohn eines Einzelhändlers, der selbst schon Erfahrungen als Zigarren- und Schuhhändler gesammelt hat, will sich nun als Unternehmer im großen Stil versuchen.

Doch ein erster Versuch als Schuhfabrikant (mit immerhin 150 Mitarbeitern) scheitert ziemlich schnell, weil die deutschlandweite Konkurrenz nach Aufhebung der Besatzungszonen zu groß wird. Ottos kleine Firma mit Sitz am Riekbornweg in Schnelsen muss 1948 geschlossen werden. „Ich saß da mit meiner Sekretärin und zwei Lehrlingen und wusste erst mal nicht weiter“, erinnert sich Werner Otto später.

Der zufällige Blick in einen Katalog bringt Werner Otto auf eine zündende Idee

Man kann sich diesen Vollblutunternehmer vorstellen – am (noch) leeren Schreibtisch sitzend, mit den Fingern auf der Tischplatte trommelnd und scharf nachdenkend.

Irgendwann findet ein Katalog der Versandhandelsfirma Baur den Weg in Ottos Büro. Den Zeitumständen entsprechend wird es sich um ein eher schmales, ganz einfach gestaltetes Heft gehandelt haben. Werner Otto, ebenso wissbegierig wie kühl kalkulierend, startet Nachforschungen.

Er prüft, analysiert, verwirft. Erstaunlich: Otto hat zu Beginn seiner diversen Unternehmungen oft die Theorie verfolgt und dann auch praktiziert, dass er kein Experte auf dem jeweiligen Feld sein müsse. Zu viel Detailwissen, so seine Über­legung, würde die Risikobereitschaft vermindern und letztlich die unternehmerische Kraft lähmen.

„Nur gespielt“: Werner Otto hat zunächst kaum Ahnung vom Versandhandel

„Am Anfang hab ich nur gespielt“, wird Otto später dazu sagen, was angesichts seiner ungeheuren Arbeitsleistung allerdings eine starke Untertreibung ist. Und zum Thema Versandhandel bekannte er im Rückblick: „Am Anfang stand keine große Idee. Es zündete nicht der Gedankenblitz, im Versandhandel könne eine große Chance liegen.“

Entsprechend „unbeleckt“, aber gründlich beraten startet Werner das Projekt, das für immer mit seinem Namen verbunden ist. Am 17. August 1949 meldet er bei der damaligen Behörde für Wirtschaft und Verkehr die Firma „Werner Otto Versandhandel“ an. Ein Start-up gegen Gebühr von 1 D-Mark. Ottos Prämisse lautete: „Nur ein entferntes Ziel zwingt dazu, einen geraden Weg zu gehen.“

Anfänge des Otto Versands: Die erste Toilette ist ein Häuschen auf dem Hof

Es ist schon viel geschrieben worden über die unendlichen Schwierigkeiten, mit denen Unternehmer, die keine Erben sind, in jenen Jahren zu kämpfen hatten. Eine noch kaum vorhandene eigene Firmenlogistik trifft auf Transport- und Vertriebswege, die zu großen Teilen nach wie vor kriegszerstört sind.

Eigenkapital ist kaum vorhanden, aber es herrscht ohnehin eklatanter Mangel an allem – von Schreibpapier bis zu Treibstoff. Viele arbeitsfähige Männer sind gefallen oder noch in Gefangenschaft, die wenigen verfügbaren Fachkräfte heiß begehrt.

Die Arbeitsbedingungen der ersten Zeit würden heute skandalisiert werden: Die erste Toilette, das als Bespiel, ist ein kleines Häuschen, das – gekennzeichnet mit dem obligatorischen Herz – am anderen Ende des Hofs steht. Doch Männer wie Werner Otto sehen weniger diese Probleme als vielmehr die riesige Chance, die ihnen diese Zeit eben auch bietet. Also an die Arbeit.

Start des Otto Versands: Deshalb lagen in den Musterkoffern nur linke Schuhe

Das Sortiment des Otto Versands besteht zunächst ausschließlich aus Schuhen – es ist Werner Ottos dritter Versuch in diesem Segment. Seine Vertreter ziehen anfangs mit Musterkoffern von Haus zu Haus und präsentieren die Ware an den Türen, die ihnen mal mehr, mal weniger bereitwillig geöffnet werden.

Heute kaum noch vorstellbar: In jedem Koffer liegen 15 bis 20 Musterschuhe – aber nur der jeweils linke. Zum einen soll auf diese Weise genug Platz geschaffen werden, zum anderen können so Verluste von ganzen Paaren vermieden werden. Bei Gefallen kann direkt an der Tür bestellt werden, und immerhin 14 Schuhpakete verlassen damals täglich den Otto Versand.

Erste Otto-„Kataloge“ sind einfache Heftchen

Der erste „Katalog“ aus dem Jahr 1950 besteht aus 14 zusammengebundenen Seiten mit 28 aufgeklebten Schuhfotos, neben denen die Preise mit Schreibmaschine aufgetippt sind. Ist ein Artikel nicht mehr lieferbar, wird die Kordel gelöst und die entsprechende Seite einfach aus dem Heft herausgenommen. Werner Otto packt bei der Herstellung selbst mit an. Er klebt Fotos auf, schnürt Pakete – und reißt mit seinem Schwung alle mit. Pionierjahre eben.

Es dauert Jahre, bis der Katalog des Otto Versands ein umfangreiches Sortiment bieten kann. Hier ein Cover aus dem Jahr 1995 mit Model Claudia Schiffer.
Es dauert Jahre, bis der Katalog des Otto Versands ein umfangreiches Sortiment bieten kann. Hier ein Cover aus dem Jahr 1995 mit Model Claudia Schiffer. © picture-alliance / dpa | FR Otto Versand

Statt Dünkel und Extravaganz bestimmen Anspruchslosigkeit und Pragmatismus den Arbeitsalltag. In der Firmenchronik finden sich dafür viele Beispiele:

  • Als ein entsprechendes Model ausfällt, zieht Werner Otto kurzerhand selbst einen hellen Popelin-Mantel an und lässt sich für den neuen Katalog fotografieren.
  • Die Schnüre eingehender Pakete werden aufgeknotet, geglättet und – genau wie das ebenfalls glatt gestrichene Packpapier – wiederverwendet.
  • Der erste „Fuhrpark“ ist eine zweirädrige Karre, mit der versandfertige Minikataloge und Pakete abends zur Post gezogen werden.

Trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) harter Arbeit, unendlicher Schwierigkeiten und der insgesamt unwägbaren Zukunftsaussichten hat Werner Otto die Anfangsjahre später als die glücklichste Zeit seines Unternehmerlebens bezeichnet.

Wenig bekannt: In den Anfangsjahren gibt es viel Konkurrenz

Wenig bekannt ist, dass es bereits damals jede Menge Konkurrenz für den Otto Versand gibt. „Als ich 1950 in den Verband des Versandhandels eintrat, gab es ein paar Hundert Versandhandelsfirmen“, erinnert sich Otto viele Jahre später, „davon war mindestens die Hälfte größer als mein Betrieb.“

Dass er sie zuletzt alle ausstechen kann, liegt in erster Linie an Werner Otto selbst. So umgänglich er mit einfachen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgeht, so streng, ja unerbittlich kann er an der Führungsspitze sein.

Otto ist bei der Auswahl seines Managements extrem gründlich, und er zahlt seinen Topmitarbeitern schon früh ungewöhnlich hohe Gehälter. Einerseits gilt er als detailversessen und will selbst über kleinste Sachverhalte genauestens informiert werden, andererseits lässt er – wenn alles nach seiner Zufriedenheit verläuft – dem Management weitgehend freie Hand, um sich selbst besser um die strategische Ausrichtung kümmern zu können. Dabei arbeitet er Tag und Nacht bis zum Umfallen. Zwei Ehen bleiben auf der Strecke.

Otto-Kataloge werden in raschem Tempo dicker – Umsatz wächst rasant

Das Betriebsklima gilt insgesamt als gut. Das spricht sich nicht nur in Hamburg herum, und so entwickelt sich der Otto Versand schnell zum begehrten Arbeitgeber. Die Leidenschaft, mit der das Team in Schnelsen an die Arbeit geht, macht sich bezahlt. Schon 1951 erscheint der laufend dickbäuchiger werdende Katalog in einer Auflage von 1500 Stück, die erste Million wird umgesetzt. Zwei Jahre später sind es schon fünf Millionen, bei einer Mitarbeiterzahl von mehr als 150.

Obwohl am Standort Schnelsen gerade erst ein neues Betriebs- und Verwaltungsgebäude errichtet worden ist, entschließt sich Werner Otto angesichts der optimistisch stimmenden Entwicklung 1956, den Firmensitz nach Hamm zu verlegen. Schon zwei Jahre später – der Umsatz ist mittlerweile auf 100 Millionen D-Mark geklettert, erwirbt Otto – auch hier ganz der visionäre Unternehmer, ein Baugrundstück in Bramfeld.

Im August 1959 erfolgt unter den wachsamen Augen von Werner Otto (2. v. r.) die Grundsteinlegung für den Neubau des Otto Versands in Hamburg-Bramfeld. Dritter von links ist Hamburgs damaliger Bürgermeister Max Brauer.
Im August 1959 erfolgt unter den wachsamen Augen von Werner Otto (2. v. r.) die Grundsteinlegung für den Neubau des Otto Versands in Hamburg-Bramfeld. Dritter von links ist Hamburgs damaliger Bürgermeister Max Brauer. © Otto Group

Aus Otto Versand wurde weltweit operierende Otto Group

1961 können dort dann die neuen Betriebsgebäude bezogen werden, die im Kern immer noch den Sitz der heutigen, breit aufgestellten und weltweit operierenden Otto Group bilden.

Das Abendblatt hat Werner Otto, sein Unternehmen und sein beispielgebendes Mäzenatentum jahrzehntelang begleitet. „Der Mann, der wie Goethe ein Stehpult hat“, war ein Porträt überschrieben, „Sein Herz gehört kranken Kindern“ ein anderes. Das alles sind Schlaglichter aus den Anfangsjahren, welche die ungeheure Dynamik verdeutlichen, mit der das Unternehmen in hohem Tempo quasi an die Spitze stürmte.

Die lange Erfolgsgeschichte des Otto Versands darzustellen würde viele Seiten füllen. Werner Otto ist in jungen Jahren nicht auf Weltuntergangspropheten hereingefallen, um die Worte Helmut Schmidts zu gebrauchen, und er ist auch selbst nie einer geworden. Auch hier kann seine Geschichte und die seines Unternehmens Vorbild sein. Heute mehr denn je.