Bergedorf. Wie heimische Amateurfußballer das Debakel im ersten Relegationsspiel beim VfB Stuttgart erlebten. Was sich nun ändern muss.

Das erste Gegentor haben sie noch nicht einmal gesehen. „Wir standen in der Fankurve des HSV. Überall war blauer Rauch, alles war zugenebelt“, schilderte Marcel Jeremias, Bezirksliga-Fußballer von Atlantik 97. „Und plötzlich war da dieser Riesenlärm.“ Als sich der Nebel in der Mercedes-Benz Arena lichtete, sahen die HSV-Anhänger jubelnde Stuttgarter Spieler, die sich in den Armen lagen. Konstantinos Mavropanos hatte nach nicht einmal einer Minute zur 1:0-Führung für den VfB getroffen.

Es war der Anfang vom Ende: Der Bundesligist spielte die Hamburger im ersten Relegationsspiel komplett an die Wand, siegte nach weiteren Treffern von Josha Vagnoman und Serhou Guirassy mit 3:0. Nun braucht es im Rückspiel schon ein Wunder. Doch wer glaubt daran? Jeremias nicht. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt hingehe“, überlegt er. „Vielleicht verschenke ich meine Karte auch.“

Relegation: Der Aufwand, mit dem HSV mitzureisen, ist enorm hoch

Keine Frage, der Frust sitzt tief. „Das war sehr viel Aufwand für sehr wenig Ertrag“, bilanziert Dennis Tornieporth enttäuscht, der gemeinsam mit Jeremias und ein paar Freunden nach Stuttgart gefahren war. Einen Tag frei nehmen, eine Kinderbetreuung finden, 16 Stunden Fahrt für nichts und wieder nichts. Als Trainer hat Tornieporth den Düneberger SV von der Kreisliga bis zur Landesliga-Vizemeisterschaft geführt, wechselt nun zum Lüneburger SK. „Wenn beim HSV kein Umdenken stattfindet, werden sie noch viele Jahre in der 2. Bundesliga spielen“, schätzt Tornieporth. „Ich mag den Trainer, aber mit seiner Art Fußball wird er scheitern – leider.“

Ist er noch der Richtige für den HSV: Trainer Tim Walter musste feststellen, dass es für seine Mannschaft gegen einen Erstligisten nicht reicht.
Ist er noch der Richtige für den HSV: Trainer Tim Walter musste feststellen, dass es für seine Mannschaft gegen einen Erstligisten nicht reicht. © dpa | Tom Weller

An Coach Tim Walter und seiner Vorliebe für Ballbesitz-Fußball scheiden sich beim HSV seit Jahren die Geister. Das dürfte noch an Intensität zunehmen, wenn das Scheitern der Hamburger in der Relegation nach dem Rückspiel am Montag amtlich sein sollte. Torsten Henke, Sportlicher Leiter des Landesligisten SV Curslack-Neuengamme, nimmt da kein Blatt vor den Mund. „Mit Walter spielen sie noch die nächsten zehn Jahre in der 2. Liga“, ist Henke überzeugt. Der Anspruch, auch gegen stärkere Gegner das Spiel dominieren zu wollen, sei arrogant. „Der HSV hat es den Stuttgartern viel zu leicht gemacht“, führt Henke aus. „Man muss doch zuerst einmal versuchen, dem Gegner die Stärken zu nehmen.“

Von hoch oben auf der Tribüne freier Blick aufs Grauen

Ein paar Reihen oberhalb der Rauchschwaden und somit mit der Gnade des freien Blicks aufs Spielfeld gesegnet befand sich Jörg Bremer, früherer Jugendtrainer des TSV Glinde. Obwohl ,Gnade’ vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist angesichts dessen, was unten auf dem Rasen von den Hamburgern geboten wurde. „Ich habe mir schon gedacht, dass es so laufen könnte. Ich hab’s nur anders gehofft“, urteilt er trotzdem milde. Die Kritik an Walter hält er für überzogen. „Ich würde mit ihm weitermachen“, schlägt Bremer eine Bresche für den HSV-Coach. „Diese vielen Trainerwechsel fand ich furchtbar. Sie haben auch gar nichts gebracht. Tim Walter identifiziert sich mit dem Verein und stellt sich immer vor die Mannschaft.“

Für Henke hingegen kommt nur ein harter Schnitt infrage. „Nicht nur über Tim Walter muss man nachdenken, sondern auch über Sportvorstand Jonas Boldt. Der hat seit vier Jahren jede Saison 20 Millionen zur Verfügung und schafft es nicht, aus der 2. Bundesliga aufzusteigen.“ Und einmal in Rage, macht Henke natürlich auch vor den Spielern nicht Halt. „Von Sonny Kittel etwa heißt es, er sei ein Unterschiedsspieler“, betont Henke. „Das ist er schon, aber in 34 Spielen nur drei Mal. Das ist zu wenig.“ Marcel Jeremias verfolgte im Stadion mit wachsender Verzweiflung die vergeblichen Versuche von HSV-Rechtsverteidiger Moritz Heyer, die wieselflinken VfB-Stürmer an die Kette zu legen: „Da laufe ich ja rückwärts schneller als er vorwärts.“

Die Erwachsenen fluchen, die Kinder bejubeln jede gelungene Aktion

Im Vereinsheim des SC Vier- und Marschlande verfolgte Sören Deutsch die Partie, zuletzt Trainer beim Bezirksligisten TSV Glinde. Was er dort erlebte, hat ihn nachdenklich gemacht. „Ich ertappe mich dabei, ein solches Spiel als Fan anders zu schauen als früher“, schrieb er am Morgen danach auf Facebook.

„Knapp 40 Jahre ist es her, dass mein Papa mich mit in den Volkspark genommen hat und meine Liebe zum HSV entflammt ist. Gestern habe ich mich mal wieder dabei erwischt, nahezu durchgehend negativ zu sein. Vor, während und nach dem Spiel habe ich eigentlich nur gepöbelt! Und dann sitzen da zwei siebenjährige Jungs komplett in HSV-Klamotten, und während wir Erwachsenen am Fluchen sind, sehen sie nur das Positive, feiern den Keeper für den gehaltenen Elfmeter und jeden gewonnenen Zweikampf. Ich würde so gerne wieder ein HSV-Spiel wie ein Kind gucken.“

Ist der HSV-Frust also eine Generationen-Frage? Immerhin ist die Begeisterung um das Team immens, nur die Bundesligisten Borussia Dortmund, Bayern München und Schalke 04 ziehen mehr Fans an als der HSV. Torsten Henke hält es daher durchaus für möglich, dass das eine Frage der Perspektive auf den Verein ist.

„Ich habe als Jugendlicher ja noch die großen Zeiten des HSV miterlebt“, erinnert er sich. „Die deutschen Meisterschaften zwischen 1979 und 1983, den Europapokalsieg, das 5:1 gegen Real Madrid, später das berühmte 4:4 gegen Juventus Turin. Die jungen Leute kennen den HSV doch nur noch aus dem Bundesliga-Abstiegskampf. Die haben einen ganz anderen Anspruch als ich.“

Wenn der HSV am Montag im Rückspiel gegen Stuttgart um seine allerletzte Aufstiegschance kämpft, wird der 57-jährige Henke nicht im Volksparkstadion sein, seine Kinder Laura (20) und Lennart (17) hingegen schon. Die Jugend hat längst übernommen.