Neuengamme. Die Nazis haben Natan Grossmanns Familie ermordet. Zum 77. Jahrestag der Befreiung spricht er über seine schrecklichen Erlebnisse.

Bruder, Mutter und Vater, Onkel und Cousinen – nahezu alle Verwandten von Natan Grossmann wurden von den Nazis ermordet. Lange hat der heute 95-Jährige nicht über die Zeit gesprochen, die so großes Leid in sein Leben brachte. Doch als ihn vor gut zehn Jahren Filmemacherin Tanja Cummings kontaktierte, brach er sein Schweigen. Und berichtet heute umfangreich davon, was ihm im Zweiten Weltkrieg widerfahren ist: „Ich bin verpflichtet, sonst ist keiner mehr da“, sagt er. Und wer leugnet, dass es den Holocaust gegeben hat, den könne er nicht mal anschauen, betont Grossmann.

Genau 77 Jahre sind vergangen, seit britische Truppen ins Konzentrationslager Neuengamme vordrangen. Zuvor war das Areal von einem 700 Mann starken Aufräumkommando gesäubert worden. „Aus Augenzeugenberichten und vielerlei Quellen gelang es dann doch, die Konturen von Leid und Elend, das die Nazi-Schergen im KZ Neuengamme ihren Opfern angetan hatten, wieder erkennbar zu machen“, sagt Dorothee Stapelfeldt (SPD).

Gedenkstätte Neuengamme: Erinnerung an die Befreiung

Hamburgs Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen gedachte am Dienstag in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme der Befreiung der Konzentrationslager und des Kriegsendes. Nachdem es in den vergangenen beiden Jahren aufgrund der Pandemie nur ein stilles Gedenken sowie per Livestream im Internet geben konnte, waren in diesem Jahr wieder mehr als 400 Gäste im Westflügel des ehemaligen Klinkerwerks dabei.

Eigentlich könnten wir uns glücklich wissen, meint Prof. Detlef Garbe. „Doch seit zehn Wochen findet in Europa ein neuer, ein barbarischer Krieg statt“, sagt der Vorstand Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. Es sei daher undenkbar gewesen, in diesem Jahr gemeinsam mit offiziellen Vertretern der Russischen Föderation und aus Belarus zu einem Gedenken zusammenzukommen, während zeitgleich Russland mit Unterstützung von Belarus einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, so Garbe. Die konsularischen Vertretungen dieser Länder waren daher nicht willkommen. „Die KZ-Opfer aus diesen Ländern werden wird selbstverständlich ehren und für sie Kränze niederlegen“, betont Garbe.

Frau verlässt Gedenkveranstaltung unter Protest

Nach dem Vortrag einer nach Hamburg geflüchteten Ukrainerin zum Krieg beschwerte sich eine Zuhörerin lautstark: „Entschuldigung, Sie können doch den Holocaust nicht mit dem Krieg in der Ukraine vergleichen!“ Gemeinsam mit ihrem Begleiter und einigen weiteren Teilnehmern verließ die Frau die Veranstaltung unter Protest.

Unter den Gästen waren neben Dorothee Stapelfeldt und Jean-Michel Clère, Präsident der Amicale de Neuengamme, auch drei Überlebende des KZ Neuengamme: Helga Melmed aus den USA, Dita Kraus aus Netanja und eben Natan Grossmann.

Zuerst stirbt der Bruder, dann der Vater, schließlich die Mutter

Der 95-Jährige wird im polnischen Zgierz bei Lodz als Sohn eines Schusters geboren. 1940 werden alle Juden zwangsweise ins Ghetto Lodz umgesiedelt. Etwa 200.000 Juden werden dort eingesperrt. Am Kriegsende sind nur noch zwischen 7000 und 10.000 am Leben.

Im März 1942 verschwindet Natans großer Bruder. Erst mehr als 70 Jahre später soll Natan Grossmann durch die Recherche von Filmemacherin Tanja Cummings erfahren, dass sein Bruder in einem Lastwagen im Vernichtungslager Chelmno vergast worden ist. Wenige Monate später nach dem Bruder stirbt auch sein Vater: Avram Grossmann wird totgeschlagen und in ein Massengrab gelegt. Von der einst vierköpfigen Familie bleiben nur noch Natan und seine Mutter. Doch es gibt nicht genug Essen für zwei: Bluma Grossmann überlässt ihrem Sohn die Nahrung – im September 1942 stirbt sie den Hungertod. Der Gedanke an den quälenden Hunger und das schlechte Gewissen, seine Mutter hätte überleben können, hätte er ihr das Essen gelassen, verfolgen Natan Grossmann bis heute.

Grossmann wird am 2. Mai 1945 von US-Soldaten befreit

Natan Grossmann ist plötzlich ganz allein. Er haust in einem Keller, wo es schrecklich kalt ist und er Erfrierungen erleidet. Im August 1944 wird er nach Auschwitz deportiert. Als Schmied wird er von dort nach Vechelde, ein Außenlager des KZ Neuengamme, deportiert, wo Metallarbeiter gebraucht werden. Als im März 1945 die Alliierten Truppen näher rücken, werden die Häftlinge auf einen Todesmarsch geschickt. Er überlebt und wird am 2. Mai in Ludwigslust von den US-Soldaten befreit.

Er zieht nach Israel, doch kommt 1961 nach München, um dort die Folgen seiner Erfrierungen behandeln zu lassen. Dort lernt er seine Frau Ute kennen – und bleibt: „Die Liebe zu ihr war stärker als die Liebe zu Israel“, sagt er. Gemeinsam lebt das Paar bis heute in München. Er sagt: „Deutschland ist reingewaschen, Nun ist es die Aufgabe der jungen Leute, dieses wunderbare Land zu erhalten.“

Der Dokumentarfilm „Das Zelig“ von Tanja Cummings wird Mittwoch, 4. Mai, 19 Uhr, im Abaton-Kino (Allendeplatz 3) gezeigt. Neben der Filmemacherin ist Natan Grossmann dabei.