Lohbrügge. Die Zahl Hilfesuchender schnellt in die Höhe – und wird weiter steigen. Wie die Schulden entstehen und was die Berater empfehlen.

Dass die 22-Jährige eine Bürgschaft unterschreibt, damit sich der neue Liebhaber einen Ferrari kaufen kann, sei doch eher eine Ausnahme. Aber ja, seltsame Dinge erleben die Mitarbeiter der Schuldnerberatung der „Hamburger Arbeit“ am Sander Markt 12 in Lohbrügge immer wieder: Da werden Schulden angehäuft, um Drogen und Sexspielzeug zu kaufen, die Designer-Tasche oder ein edles Fernrohr. „Das ist sinnloses Shoppen, viele Klienten sind ehemals Spiel- oder Kaufsüchtige“, sagt Rita Jeske, die mit ihrem Kollegen, dem Juristen Fried Johann Baum, meist hilflose und verzweifelte Menschen berät.

Die Zahlen explodieren bei den Beratern, die derzeit eine lange Wartezeit ankündigen. Aktuell stehen 246 Personen auf der Warteliste. „Die Sozialbehörde gibt 90 Tage vor, aber wir liegen aktuell bei 120 Tagen“, sagt Jeske, die im Lockdown nur telefonisch oder per E-Mail arbeiten konnte: Die wenigsten aber haben einen Computer und können Online-Beratungen annehmen.

Lange Warteliste bei der Schuldnerberatung in Lohbrügge

Zu 67,3 Prozent seien es Sozialhilfe-Empfänger: Da gab es eine Trennung, da wurde Krebs diagnostiziert, da ist plötzlich der sowieso schon schlecht bezahlte Job verloren – nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie. Im Durchschnitt haben die Menschen 18.850 Euro Schulden bei 17 Gläubigern – darunter auch zahlreiche Versandhäuser wie Amazon, Otto, Quelle, Bonprix und Neckermann: „Erstaunlich, wie viele Leute sich noch ein neues Sofa auf Rechnung liefern lassen“, meint Fried Johann Baum.

Ähnlich wie vor Corona fragten in diesem Jahr bei den Erstgesprächen 108 Männer und 128 Frauen um Hilfe. „Es ist schon erstaunlich, dass so viele Frauen dabei sind, aber die meisten sind alleinerziehend“, sagt Baum, der genau weiß, dass ein Teilzeitjob im Restaurant oft nicht ausreicht, dass das Geld knapp wird, wenn Arbeitslose keinen Unterhaltsvorschuss mehr bekommen, sobald die Kinder zwölf Jahre alt sind. Da stecken viele den Kopf in den Sand – und suchen erst sehr spät Hilfe.

Gern wird auch mal das Zahlen der Hundesteuer „vergessen“

Die meisten sind zwischen 30 und 40 Jahre alt: „Die haben schon eine lange Leidenszeit und leben etwa mit Kreditschulden für ein Auto, das längst schon kaputt ist oder verkauft“, meint Sozialarbeiterin Jeske. Die zweitgrößte Gruppe ist dann 40 bis 50 Jahre alt. Auf ihrer Liste stehen etwa Kindergeld-Überzahlungen, da der Nachwuchs längst die Ausbildung beendet hat, oder auch ALG-Rückforderungen, da der 450-Euro-Job angerechnet wird. Die Schuldnerberater, die nächstes Jahr im Mai das zehnjährige Bestehen ihres Angebots in Lohbrügge feiern können, führen genaue Statistiken.

27,7 Prozent ihrer Klienten müssen Kredite abzahlen, nur fünf Prozent haben Handyvertragsschulden. Immerhin ein Viertel (25 Prozent) sind bei öffentlich-rechtlichen Schuldnern in den Miesen, etwa bei der Krankenkasse, weil sie auch als Obdachlose versicherungspflichtig sind, oder beim Finanzamt, weil nun mal auch ein Pizzaservice im Franchise Umsatzsteuer zahlen muss wie der kleine Kiosk-Betreiber oder der selbstständige Hausmeister. Auch die Hundesteuer werde gern mal vergessen, weil der treue Begleiter schon durch sein Futter teuer genug ist oder auch noch medizinische Hilfe braucht.

Überschuldung: „Die ganz große Welle rollte noch an“

„Es staut sich jetzt, aber wir wollen keine ungeöffneten Rechnungen im Briefkasten der Beratungsstelle haben“, mahnt Jeske und erklärt das Prozedere: Unter Telefon 040/428 68 44 55 sollte man sich für eine Beratung anmelden (bitte auch auf die Mailbox sprechen), dann folgt eine Einladung zur einstündigen Info-Beratung. Erst wenn dann alle Unterlagen sortiert sind, folgt eine persönliche Beratung. Denn so geht es für alle am schnellsten.

Dann wissen die Leute schon, dass sie eine Bescheinigung für ein Pfändungsschutzkonto brauchen (mit einem Grundfreibetrag von 1330 Euro für den Lebensunterhalt). Oder dass sie einen Antrag stellen können auf Privatinsolvenz, um nach drei Jahren schuldenfrei zu sein.

Aber „die ganz große Welle rollt noch an“, sind sich die Berater einig – mit Blick auf die Energiekrise. „Das wird ab 2023 richtig problematisch“, ahnt Gerhard Baier, der seit einem Jahr im Bergedorfer Jobcenter eine unabhängige Beratung anbietet: „Unterkunft und Heizung werden ja meist in voller Höhe übernommen, aber die Stromkosten werden bei der Endabrechnung richtig durchschlagen.“ Er könne helfen, wenn eine Stromsperre droht und mit den Anbietern Ratenzahlungen vereinbart werden müssen, das Jobcenter ein zinsloses Darlehen anbietet.

„Hamburger Arbeit“ hilft in schwierigen Lebenssituationen

Der Sozialarbeiter ist montags und dienstags zwischen 9 und 12 Uhr direkt am Weidenbaumsweg anzutreffen, vereinbart unter 0176/12 38 84 06 auch gern Termine, um bei Schulden zu helfen oder an die richtigen Stellen zu verweisen, wenn etwa psychische Krankheiten vorliegen, eine Kinderbetreuung fehlt oder die Wohnung der Sozialempfänger zu groß ist, sie sich einen Untermieter suchen sollten. „Wir helfen allgemein in schwierigen Lebenssituationen“, sagen die Leute von der „Hamburger Arbeit“ – und wissen, dass noch viel Arbeit auf sie zukommen wird.