Bergedorf. Politik will verstecktes Problem öffentlich machen und organisiert Hilfe für die vielen Betroffenen und ihre Angehörigen.

Diese Zahlen schockieren: Gut 10.000 Bergedorfer im Alter von 18 bis 64 Jahren gelten als Analphabeten des 21. Jahrhunderts. Das bedeutet, sie können kaum mehr als einzelne Worte lesen oder schreiben. Regelmäßig scheitern sie beim Verstehen oder Verfassen selbst kurzer zusammenhängender Texte. Und weitere 17.000 sind beim Schreiben nie über das Grundschulniveau hinausgekommen, haben auch als Erwachsene eine auffällig fehlerhafte Rechtschreibung.

Natürlich sind die Bergedorfer mit diesem Problem nicht allein. Die genannten Zahlen beschreiben für den Bezirk nur die Ergebnisse der sogenannten LEO-Studie der Universität Hamburg von 2018, die den Grad der Analphabetisierung in ganz Deutschland untersucht hat. Demnach ist fast jeder dritte Erwachsene betroffen, gilt als „nicht ausreichend literalisiert“, wie der strukturelle Analphabetismus heute heißt.

„Struktureller Analphabetismus bedeutet für die Betroffenen großes Leid“

„Das sind dramatische Zahlen“, sagt Robert Gruber von der Fraktion der Linken in der Bezirksversammlung. „Sie bedeuten für die Betroffenen großes persönliches Leid, weil sie Schwierigkeiten haben, am alltäglichen Leben selbstständig teilzuhaben und vor allem auf dem Arbeitsmarkt auf riesige Hürden treffen.“ Viele würden ihre Defizite deshalb so gut es geht verstecken, weiß der ehemalige Berufsschullehrer.

Auf Antrag der Linken will Bergedorfs Politik dieses Problem jetzt angehen. Einstimmig hat der Bildungsausschuss der Bezirksversammlung in seiner jüngsten Sitzung unter anderem beschlossen, Informationsmaterial an Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie Bürgerhäuser und weitere Einrichtungen zu verteilen. Kooperationspartner wird der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung mit Sitz in Münster sein, der voraussichtlich im Sommer auch sein Infomobil nach Bergedorf schickt.

Ursachen für Defizite im Lesen und Schreiben liegen oft im Elternhaus

„Ich freue mich über die Einladung“, sagte Geschäftsführerin Dr. Nicole Pöppel, die als Gast des Bildungsausschusses die Dramatik der Lage beschrieb: „Die Ursachen einer nicht ausreichenden Literalisierung liegen nur zum Teil in individueller Lese-Rechtschreib-Schwäche, denn die könnte professionell angegangen werden. Oft wurden die Betroffenen im Elternhaus vernachlässigt, weisen ihre Lebensläufe unzureichende Schulbesuche auf.“

Tatsächlich sind viele der Betroffenen trotzdem in festen Arbeitsverhältnissen. Laut LEO-Studie sind fast zwei Drittel erwerbstätig, gegenüber 75,5 Prozent im Durchschnitt aller Erwachsenen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren. „Wenn ich solche Zahlen in meinen Vorträgen nenne, ist das Publikum geschockt“, sagte Nicole Pöppel. Das zeige, wie gut die betroffenen Menschen ihre Defizite verbergen könnten. „Die Folge ist aber leider, dass sich die ganz große Mehrheit von ihnen nicht um das Beheben der Defizite kümmert. Dabei gibt es längst diverse Angebote, vor allem in Großstädten wie Hamburg.“

Angebote für Betroffene in der Volkshochschule, Hilfe am „Alpha Telefon“

Genau hier will Bergedorfs Politik nun in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband ansetzen und das Vorhandene sichtbar machen. So bietet die Volkshochschule kostenfreie Kurse für Menschen an, die zur Gruppe der nicht ausreichend Literalisierten gehören. Ferner trifft sich einmal im Monat die „Alpha-Selbsthilfegruppe“ des Bundesverbandes in der Hamburger Zentralbibliothek am Hühnerposten beim Hauptbahnhof. Und unter der kostenlosen Hotline 0800-53 33 44 55 bietet das „Alpha-Telefon“ des Bundesverbandes Alphabetisierung Beratung für Betroffene, Angehörige sowie professionelle Unterstützer und Multiplikatoren.

Wer glaubt, in der modernen internetbasierten Welt werde eine gute Lese- und Schreibkompetenz immer unwichtiger, dem hielt Nicole Pöppel in ihrem Vortrag die Realität vor Augen: „Das genaue Gegenteil ist der Fall. Gerade durch das Netz gewinnt Schrift sogar noch mehr an Bedeutung.“ Die bei jungen Leuten aber tatsächlich verbreitete Auffassung, dass korrekte Rechtschreibung keinen großen Wert mehr habe, verschärfte das Problem zusätzlich. „Nicht ausreichende Literalisierung ist auch in der jungen Generation ein großes Problemen – mit vielen negativen Auswirkungen für viele künftige Lebensläufe.“